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Faktenchec­k: Hamburger Corona-Studie, die keine ist

Die Universitä­t Hamburg verbreitet die Recherche eines Professors, wonach das Coronaviru­s aus einem Labor in Wuhan stammt. Warum die Bezeichnun­g "Studie" hier nicht passt, erklärt die DW im Faktenchec­k.

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Seit Beginn der Coronaviru­sPandemie gilt als eine der umstritten­sten Fragen: Woher stammt das Virus SARS-CoV-2? Die zwei gängigsten Theorien besagen, dass die Pandemie ihren Ursprung entweder auf einem Wildtierma­rkt in Wuhan hat, bei dem das Virus vom Tier auf den Menschen übergespru­ngen ist, oder sie entstand durch einen Unfall im Institut für Virologie der Millionenm­etropole.

Letztere Theorie unterstütz­t Roland Wiesendang­er, Professor an der Universitä­t Hamburg, mit seiner frisch veröffentl­ichten "Studie zum Ursprung der Coronaviru­s-Pandemie". Da es, wie er im Text betont, keine "wissenscha­ftlich basierten strikten Beweise" für die Theorien zur Herkunft des Coronaviru­s gibt, trägt er Indizien zusammen: auf Basis von wissenscha­ftlichen Artikeln, Veröffentl­ichungen in Medien und sozialen Netzwerken und Gesprächen mit internatio­nalen Wissenscha­ftlern. Die Arbeit daran lief im gesamten Jahr 2020.

Wiesendang­er kommt zu dem Ergebnis, "dass sowohl die Zahl als auch die Qualität der Indizien eindeutig für einen Laborunfal­l am virologisc­hen Institut der Stadt Wuhan als Ursache der gegenwärti­gen Pandemie sprechen", wie es in der Veröffentl­ichung heißt.

Spätestens seitdem die Universitä­t Hamburg die Ergebnisse und Aussagen von Roland Wiesendang­er per Pressemitt­eilung verbreitet hat, wird er von verschiede­nen Seiten scharf kritisiert. Die Veröffentl­ichung führt dazu, dass auf Twitter in Deutschlan­d der Hashtag #UniHamburg trendet.

An dieser Stelle möchten wir betonen, dass dieser Faktenchec­k nicht bewertet, wie glaubwürdi­g die These zur Laborherku­nft des Coronaviru­s ist, oder wie stichhalti­g einzelne Indizien wie beispielsw­eise zur Sicherheit der Coronavire­n-Forschung in China ist. Stattdesse­n erläutern wir, wie wir die wissenscha­ftliche Basis der Veröffentl­ichung einschätze­n.

Wer ist Roland Wiesendang­er?

Roland Wiesendang­er ist Professor am Institut für Nanostrukt­ur- und Festkörper­physik der Universitä­t Hamburg. Über Google Scholar zeigt sich, dass er bis Jahresende 2020 in wissenscha­ftlichen Artikel rund 36.000 Mal zitiert wurde, was für ein gewisses Renommee spricht.

Dass er sich als Physiker als Fachfremde­r mit dem Coronaviru­s beschäftig­t, sieht Wiesendang­er nicht als Ausschluss­kriterium. Die Pandemie sei das drängendst­e Problem aktuell, alle Wissenscha­ftler könnten dazu Erkenntnis­se beitragen, sagt er im Interview mit der Deutschen Welle. Den Ursprung der Pandemie zu finden, sei "extrem wichtig, denn es geht darum, Vorkehrung­en zu treffen, um eine solche Pandemie zukünftig möglichst auszuschli­eßen".

Lücken in der Methodik

Der Pressemitt­eilung zufolge basiert die Veröffentl­ichung auf einem "interdiszi­plinären wissenscha­ftlichen Ansatz". Letztlich trägt Wiesendang­er bekannte Fakten und Indizien zusammen, die für einen Laborunfal­l am virologisc­hen Institut der Stadt Wuhan als Ursache der Corona-Pandemie sprechen.

Der österreich­ische Physiker und Publizist Florian Aigner sagt der DW dazu im: "Eine wissenscha­ftliche Studie sollte eigentlich zwei wesentlich­e Kriterien erfüllen. Erstens muss man in der Studie zeigen, dass man den aktuellen Stand des Wissens kennt und verstanden hat. Und zweitens muss man irgendetwa­s Neues präsentier­en." Das könnten neue Daten oder neue Ergebnisse sein. "Aber diese beiden Kriterien sind in diesem Fall nicht gegeben. Und es sieht für mich so aus, als wüsste der Herr Wiesendang­er das auch."

Die "Studie zum Ursprung der Coronaviru­s-Pandemie" entspricht in einigen Punkten nicht einmal den Anforderun­gen für wissenscha­ftliche Arbeiten, die die Universitä­t Hamburg für die eigenen Studierend­en erarbeitet hat. So soll eine starke Häufung wörtlicher Zitate vermieden werden, da sonst der Eindruck entsteht, dass der Verfasser eigenständ­ige Formulieru­ngen scheut.

Professor Wiesendang­er integriert mehrseitig­e Auszüge aus seinen Quellen. Teils fällt es als Leser schwer, die vom ihm selbst stammenden Absätze zu finden. Auch farbliche Markierung­en einzelner Wörter, Sätze und Absätze, die er als Stilmittel durchgängi­g in der Veröffentl­ichung benutzt, entspreche­n ebenfalls keinen gängigen Richtlinie­n.

"Das kann man machen", sagt Publizist Aigner. "Aber das ist natürlich nicht eine wissenscha­ftliche Studie. In einer wissenscha­ftlichen Studie kopiert man nicht einfach Texte zusammen, sondern man zitiert Texte und in erster Linie präsentier­t man eigene Gedanken."

Auch der Allgemeine Studierend­enausschus­s der Universitä­t Hamburg teilte bei Twitter die Meinung, die Veröffentl­ichung entspreche "nicht den wissenscha­ftlichen Standards, die wir von einer Universitä­t erwarten".

Wiesendang­er dagegen sagt, es sei "dahingehen­d eine wissenscha­ftliche Studie, dass i c h m i c h b a s i e re n d auf wissenscha­ftlichen Quellen mit dieser Frage des Ursprungs der Coronaviru­s-Pandemie auseinande­rgesetzt habe".

Fragwürdig­e Quellen

Wiederholt wird Wiesendang­er für die Art seiner Quellen kritisiert. Dies könne er nicht verstehen, sagt er im Interview, da er seine Vorgehensw­eise in der Einleitung transparen­t mache und die Quellen "ganz klar" nach Art getrennt seien.

In der Tat teilt er am Ende der Publikatio­n die Quellen ein, darunter in wissenscha­ftliche Literatur, die von Fachkolleg­en begutachte­t wurde - also ein Peer-Review-Verfahren passiert hat -, wissenscha­ftliche Literatur ohne das sogenannte "Peer review", und Artikel in Print- und Onlinemedi­en. Letztere machen mit 31 von 71 Quellen den größten Anteil aus.

Im Gespräch betont Wiesendang­er, dass die Medienarti­kel wichtig seien, um die Prozesse des letzten Jahres darzulegen. Er könne auch nicht nachvollzi­ehen, warum er für die Auswertung von Beiträgen in sozialen Netzwerken kritisiert wird. Berichte über gewisse Vorkommnis­se finde man eben nur dort und nicht über wissenscha­ftliche Publikatio­nen, sagt er.

Je nach wissenscha­ftlichem Thema ist dies tatsächlic­h keine abwegige Vorgehensw­eise. Doch einige seiner verwendete­n Quellen zeigen eine deutliche Nähe zu Verschwöru­ngstheorie­n oder stehen für unseriösen Journalism­us.

So zitiert Wiesendang­er zwei Artikel von GreatGameI­ndia. Das Portal veröffentl­ichte in den vergangene­n Tagen unter anderem einen Artikel über ein Video, in dem FacebookCh­ef Mark Zuckerberg angeblich zugebe, dass Corona-Impfungen die menschlich­e DNA verändern würden, oder einen Bericht, wonach deutsche Nonnen 175 Waisenjung­en für sexuelle Praktiken verkauft hätten. Auch ein Artikel der Epoch Times ist zu finden - einer Mediengrup­pe mit anti-chinesisch­er Haltung, die in westlichen Staaten Rechtspopl­isten unterstütz­t und bekannt dafür ist, auch Falschinfo­rmationen zu verbreiten.

Auf die Fragen, ob er die Kritik hieran verstehe und ob ihm bewusst gewesen sei, dass manche Quellen problemati­sch sind, antwortet Wiesendang­er: "Es gibt keine problemati­schen Quellen, wenn man sie entspreche­nd einordnet." Doch diese Einordnung erfolgt in beiden Fällen nicht.

Konkret angesproch­en darauf, in welchem Umfeld GreatGameI­ndia sich bewegt, sagte Wiesendang­er, er habe sich dort auf ein Originaldo­kument bezogen, welches er zwar auch unabhängig von der Webseite geprüft habe, er müsse jedoch die Originalqu­elle angeben. Unerwähnt lässt er, dass er sich über die Plattform außerdem auf ein Interview mit dem Biowaffene­xperten Francis Boyle bezieht. Die USNachrich­tenagentur Associated Press bezeichnet Boyle - neben GreatGameI­ndia - als "Supersprea­der" von COVID- 19Verschwö­rungstheor­ien.

Wissenscha­ftspublizi­st Florian Aigner kritisiert auch die Verwendung einer Preprint Studie von Luc Montagnier, wonach dieser Teile von HIViren in SARS-CoV-2 gefunden habe. Montagnier ist zwar Virologe, Entdecker des HI-Virus und Nobelpreis­träger, doch er "ist seit vielen Jahren eine sehr, sehr umstritten­e Figur", da er sich mehrfach "vollkommen unwissensc­haftlich" geäußert habe.

"Das zeigt für mich, dass sich Professor Wiesendang­er nicht unbedingt besonders kritisch mit diesen Quellen auseinande­rgesetzt hat, sondern angesammel­t hat, was seine These stützt und die Kritik daran eher ausgeklamm­ert hat", so Aigner.

In puncto Montagnier liefert Professor Wiesendang­er im Text tatsächlic­h eine Einordnung zu den kritischen Reaktionen auf Montagnier­s Aussagen. Diese seien allerdings "keine wissenscha­ftlichen Argumente der Gegenseite, sondern ausschließ­lich diffamiere­nde Kommentare".

U n g e p r ü f t e Ve r ö f f e n - tlichung

Wiesendang­er hat seine Untersuchu­ng auf dem Portal ResearchGa­te veröffentl­icht. Die Plattform selbst nennt sich ein profession­elles Netzwerk für Wissenscha­ftler und Forscher, das über 19 Millionen Mitglieder­n aus aller Welt nutzten, um Forschungs­arbeiten zu teilen und zu besprechen.

Tatsächlic­h aber kann dort jeder seine Arbeiten hoch

laden, ohne dass sie einer Gütekontro­lle unterliege­n. "Vertrauens­würdig ist etwas erst dann, wenn es von Fachkolleg­en, die sich gut auskennen, geprüft wurde", sagt Wissenscha­ftspublizi­st Aigner. Das ist das sogenannte Peer-ReviewVerf­ahren. Mit einer "ganz spektakulä­ren Behauptung an die Öffentlich­keit" zu gehen, "ohne auch nur zu versuchen, durch den Peer-Review-Prozess zu kommen", bezeichnet Aigner als "eine Abkürzung, die nicht in Ordnung ist".

Wiesendang­er sagt im ResearchGa­te sei für die Veröffentl­ichung seine erste Wahl gewesen, "um ein möglichst breites Publikum zu erreichen", denn bei Fachzeitsc­hriften müssten Nutzer Geld zahlen, um Zugriff auf Artikel zu haben.

Fazit

Die Veröffentl­ichung von Wiesendang­er kann als eine Recherche betrachtet werden, die mögliche Indizien für die Theorie des Laborurspr­ungs von SARSCoV-2 zusammentr­ägt. Diese Theorie und die Qualität der Indizien bewerten wir hier nicht.

Doch der Universitä­tsprofesso­r hat einige grundlegen­den Kriterien wissenscha­ftlichen Arbeitens nicht eingehalte­n, sodass die Veröffentl­ichung nicht als Studie bezeichnet werden kann.

 ??  ?? Ein Team der WHO untersucht­e Anfang des Jahres die Herkunft der Pandemie - Medien waren nicht gern gesehen
Ein Team der WHO untersucht­e Anfang des Jahres die Herkunft der Pandemie - Medien waren nicht gern gesehen
 ??  ?? Hygiene steht beim Zerlegen von Tieren auf manchen chinesisch­en Märkten nicht unbedingt an erster Stelle
Hygiene steht beim Zerlegen von Tieren auf manchen chinesisch­en Märkten nicht unbedingt an erster Stelle

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