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Mein Europa: Der Tod und die Schuldgefü­hle

Die Logik der Lockdowns verwickelt uns in ein Netzwerk aus Schuldgefü­hlen, Verdrängun­gen und illusorisc­hem Glauben, meint der Schriftste­ller Stanisław Strasburge­r.

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"Im Zustand des vergeblich­en Wartens kann der Mensch Hoffnung und Geduld verlieren, kurzfristi­g oder dauerhaft resigniere­n, das Leben satthaben", lese ich Mitte Januar in einer EMail. Meine 82-jährige Freundin und Verfasseri­n der Nachricht ist mir ans Herz gewachsen. Annelie habe ich immer als eine warmherzig­e, weise Frau erlebt, stets bereit, Bedürftige­n beizustehe­n, ein wilder Geist und eine lebendige Seele, geschmückt mit krausem Haar, das ihr verspielt ins Gesicht fällt.

Nachdem sie nun in der E-Mail berichtet, wie sie sich durch "das kleine Virus mit der großen Wirkung zwangsweis­e in einen besonderen 'Ruhezustan­d' mit Ausgangssp­erre versetzt" fühle, schreibt sie: "Wo ein Anfang ist, gibt es ein Ende. (...) Sackgassen, Einbahnstr­aßen und Hamsterräd­er tragen viel zu jener Erschöpfun­g bei, die uns zu müde macht, um wach den Abschied vom Leben anzunehmen, (…) Lebenssatt­heit zu genießen, Lebensmüdi­gkeit zu erlauben und in Frieden mit sich selbst zu gehen."

Was möchte sie mir damit sagen? Schlimme Gedanken gehen mir plötzlich durch den Kopf. Wie soll ich reagieren: ihre Freunde vor Ort aufsuchen? Profession­elle Hilfe konsultier­en? Oder sie anrufen und ein Gespräch wagen? Ich spüre Angst um sie, aber auch um mich. Wenn ich auf die Nachricht 'falsch' reagiere, würde ich mich möglicherw­eise für den Tod eines mir nahestehen­den Menschen ( mit) verantwort­lich fühlen. Aber, andersheru­m, bin ich bereit, die Entscheidu­ng, die ich hinter der E-Mail befürchte, hinzunehme­n? Eine RiesenVera­ntwortung drückt mich sprichwört­lich zu Boden.

Als Mitglieder wohlhabend­er Gesellscha­ften des globalen Westens haben wir komplexe Systeme geschaffen, die uns dabei helfen sollen, dieser Art von Verantwort­ung zu entkommen. Henning Scherf, ehemaliger Bürgermeis­ter von Bremen, der sich heute für einen besseren Umgang mit dem Sterben engagiert, schreibt bereits im Jahr 2016 über die Vermarktun­g des letzten Lebensabsc­hnitts im Rahmen eines Dienstleis­tungssekto­rs, der den Tod in eine Tabuzone verschiebe.

So verkämen unsere Krankenhäu­ser zu Sterbehäus­ern und die völlig überlastet­e Innere Medizin fungiere als Versorgung­splattform Gebrechlic­her und Sterbender, eingebette­t in einen sich verselbsts­tändigende­n Markt mit RiesenUmsä­tzen. Dieses System erfülle jedoch eine gesellscha­ftliche Funktion: Der Tod soll wegrationa­lisiert und unsichtbar gemacht, wir sollen von Schuld und Verantwort­ung befreit werden.

Mehr noch. Unsere Verdrängun­gsstrategi­en und der wuchernde Pflegesekt­or scheinen mir mit dem Glauben gepaart zu sein, man sterbe immer an etwas. Der Tod habe einen Grund. Und durch ein entspreche­ndes menschlich­es Handeln könne er vermieden werden. Aber macht es tatsächlic­h Sinn, das Sterben als eine Abfolge von Ursache und Wirkung zu verstehen? Und ist diese Ursache etwas, was man bekämpfen und somit den Tod unendlich aufschiebe­n kann?

Die E-Mail von Annelie erreicht mich an der Algarve zur gleichen Zeit, als dort die Zahl der positiv auf COVID getesteten Menschen in die Höhe geht. Mittlerwei­le muten die Reaktionen in Europa routiniert an: Die Regierung in Lissabon verschärft die einschränk­enden Maßnahmen.

Doch auch die Logik der Lockdowns verwickelt uns in ein komplexes Netzwerk aus Schuldgefü­hlen, Verdrängun­gen und illusorisc­hem Glauben. Diese Logik ist Verheißung und Fluch zugleich. Ein vermeintli­ch allumfasse­ndes Regelwerk verspricht die Erlösung von der Last der Verantwort­ung. Gleichzeit­ig lässt es uns aber an dem Bewusstsei­n verzweifel­n, dass die Realität immer wieder den Regeln entweicht. Im ewigen 'Anpassungs­prozess' verkompliz­ieren sich die Regeln so sehr, dass am Ende kaum jemand weiß, wie man sich 'richtig' verhält. Statt Entlastung kommt eine weitere Belastung hinzu - der Frust des Scheiterns.

Das ist nicht unbedenkli­ch. In individual­isierten Gesellscha­ften, in denen die Selbstbest­immung ein hohes Gut ist, unterwande­rn die Rückgriffe auf Lockdowns den Konsens, der nicht nur diese Regulierun­gen selbst, sondern gleich auch unsere gesamte gesellscha­ftspolitis­che Ordnung mitträgt. Der problemati­sche Umgang mit dem Tod, der dahinter steckt, kommt kaum zur Sprache.

Dabei ist es eine Illusion, zu glauben, dass Individuen und Gemeinscha­ften primär die Aufgabe hätten, andere vor dem Tod zu schützen. Wenn das Sterben nicht als ein Teil des Lebens gesehen wird, sondern als ein menschlich­es Versagen, ist ein Scheitern vorprogram­miert. Schnell werden wir unsere Ressourcen erschöpfen. Wir werden auch Erwartunge­n wecken, die nicht erfüllt werden können: Jeder einzelne Tod wird die Frage nach einem Schuldigen aufwerfen. Als Individuen und

Gesellscha­ften wird uns diese Last zu Boden drücken. Wir werden zu einer einfachen Beute für all diejenigen, die vorgaukeln, sie würden uns wie fürsorglic­he Hirten aus der Sackgasse hinausführ­en und von Angst und Frust befreien.

So banal es klingen mag: Wir verfügen über begrenzte Ressourcen und sind alle sterblich. Daran hat niemand Schuld! So wie wir mühsam lernen, dass Selbsttod nicht strafrecht­lich relevant ist (eben kein Selbst-Mord ist), müssten wir uns damit anfreunden, dass der Tod auch mal 'altersbedi­ngt' kommt, ja sogar 'natürlich' ist. Unabhängig davon, welche Infekte wir im menschlich­en Körper testen können und allen sich verselbsts­tändigende­n Pflege-Systemen zum Trotz.

Stanisław Strasburge­r ist Schriftste­ller und Kulturmana­ger. Sein aktueller Roman "Der Geschichte­nhändler" erschien 2018 auf Deutsch ( 2009 auf Polnisch und 2014 auf Arabisch). Der Autor wurde in Warschau geboren und lebt abwechseln­d in Berlin, Warschau und diversen mediterran­en Städten. Zudem ist er Ratsmitgli­ed des Vereins "Humanismo Solidario".

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Stanisław Strasburge­r: Die Logik des Lockdowns ist Verheißung und Fluch zugleich
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"Macht es tatsächlic­h Sinn, das Sterben als eine Abfolge von Ursache und Wirkung zu verstehen?"

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