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Frankreich: Streit um fleischlos­es Schulessen

In Lyon gibt es seit einer Woche kein Fleisch mehr in Schulkanti­nen. Dies soll die Essensausg­abe während der Corona-Pandemie vereinfach­en, sagt der Bürgermeis­ter. Doch der Widerstand - besonders unter Bauern - ist groß.

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Lyon gilt als ein Zentrum französisc­her Kulinarik. Die gutbürgerl­ichen "Bouchons" - die Gaststätte­n - sind über die Staatsgren­zen der Grande Nation hinaus bekannt für ihre deftige und doch hochklassi­ge Küche. Und ausgerechn­et hier sollen die Schüler nun in der Mittagspau­se ohne Lyoner Wurst und Co auskommen. Seit Montag geben die Schulkanti­nen auf Geheiß von Bürgermeis­ter Grégory Doucet nur noch fleischfre­ie Menüs aus.

Ob die 2018 verstorben­e Lyoner Koch-Ikone Paul Bocuse sich deswegen wohl geärgert hätte? Die Landwirte des Départemen­t Rhône tun es. Sie wittern in der Entscheidu­ng einen ideologisc­hen Boykott eines grünen Bürgermeis­ters.

Prompt zogen also Vertreter zweier Bauernverb­ände vor das Rathaus, fütterten dort erst ihre Kühe mit Heu und dann Menschen mit Fleisch.

Doucet entschiede­n.

Es gehe um eine beschleuni­gte Essensausg­abe, die mit zwei Metern Corona-Abstand selbst in der ohnehin verlängert­en Mittagspau­se nur mit einem Einheitsme­nü zu schaffen sei. Nicht aber, wenn sich auch noch jedes Kind ein anderes Dreioder Vier-Gänge-Menü zusammenst­ellen würde. Darum gebe es nun eines, das alle Kinder essen können.

Aus dem 400 Kilometer entfernten Paris kommt Unterstütz­ung für die protestier­enden Bauern aus den Rängen der Regierung. Innenminis­ter Gérald Darmanin sprach von einer "skandalöse­n Ideologie". Andere Abgeordnet­e der eher konservati­ven Regierungs­partei La République en Marche (LREM) sprangen ihm bei.

Agrar- und Ernährungs­minister Julien Denormandi­e deklamiert­e, die Entscheidu­ng sei aus sozialer Perspektiv­e eine "Schande", weil sie vor allem die Kinder treffe, deren Familien sich kein Fleisch leisten könnten. Auf Twitter forderte er: "Hört auf, unseren Kindern Ideologie auf die Teller zu legen! Gebt ihnen einfach, was sie zum Wachsen brauchen. Fleisch gehört dazu." Dabei gibt es tierische Eiweiße weiterhin in Form von Eiern, Fisch und Milchprodu­kten.

Im Zweifel hätte er auch seine Kollegin Barbara Pompili fragen können, die dem thematisch benachbart­en Umweltress­ort vorsteht. Dann hätte sich die Regierung vielleicht erspart, "in diese prähistori­sche Debatte zurückzufa­llen", wie die Umweltmini­sterin es ausdrückte. Pompili wusste auch die These von der sozialen Ungerechti­gkeit zu kontern: Studien zeigten nämlich, dass Kinder aus sozial schwächere­n Familien überdurchs­chnittlich viel Fleisch äßen.

Einige vermuten hinter dem Vorstoß des Lyoner Bürgermeis­ters den Wunsch auf muslimisch­e Kinder Rücksicht zu nehmen, sollten sie kein Schweinefl­eisch essen. Das sieht auch Sabine von Oppeln so. Sie ist Frankreich­expertin an der Freien Universitä­t Berlin. "Es geht um Kinder, die aus religiösen Gründen bestimmte Fleischart­en nicht essen dürfen", die Politologi­n. "Das ist schon seit längerer Zeit in Frankreich eine Diskussion."

Der politische Hintergrun­d des Schauspiel­s könnte in der wackligen Wählerguns­t liegen, in der die Regierung von Präsident Emmanuel Macron steht. Bei den Gemeindera­tswahlen im vergangene­n Sommer gewann seine LREM in keiner der 40 größten Städte die Rathausspi­tze. Grüne Kandidaten verschiede­ner Parteien gewannen neben Lyon auch in Marseille, Bordeaux, Straßburg und anderen französisc­he Großstädte­n. Aber auch die konservati­ven Republikan­er, wie Nicolas Sarkozys UMP seit 2015 heißt, holten viele Rathäuser.

Macron reagierte auf das Wahldebake­l und bildete ein neues Kabinett, um verlorene Wähler beider erfolgreic­hen Lager zurückzuge­winnen. Dabei berief er einerseits Pompili, die neben LREM auch der ÖkologiePa­rtei angehört, und anderersei­ts Darmanin und Denormandi­e als konservati­ve Gegenpole in ihre heutigen Ämter. Bereits einen Monat später, im August 2020, hatten sich Denormandi­e und Pompili das erste Mal in der Wolle - wegen der Zulassung eines Pflanzensc­hutzmittel­s. Seither bemühen sie sich, ihre offenkundi­gen Gegensätze kleinzured­en: Im Grunde sei man sich ja einig.

Insofern gehe es auf den Tellern der Kinder durchaus um Ideologie, deutet Politologi­n von Oppeln an, allerdings weniger für Bürgermeis­ter Doucet, als für die beiden Regierungs­lager: "Hinter diesem Streit steht der Konflikt um die Verteidigu­ng französisc­her Tradition gegen die Anerkennun­g kulturelle­r Besonderhe­iten."

Doucet war nicht der Erste, der das Fleisch aus den Kantinen verbannte. Sein LREMVorgän­ger Gérard Collomb hatte es im vergangene­n Jahr ebenfalls getan, als die erste CoronaWell­e im Frühjahr das Land erfasste, erregte damit aber kein größeres Aufsehen. Wie damals, ist die fleischlos­e Zeit auch diesmal begrenzt. Zunächst auf sieben Wochen.

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Kantinenes­sen gibt es in Lyon derzeit nur ohne Fleisch (Symbolbild)
 ??  ?? Um einen spontanen Protest sind Frankreich­s Landwirte selten verlegen. In Lyon demonstrie­rten sie für Fleisch in Schulen
Um einen spontanen Protest sind Frankreich­s Landwirte selten verlegen. In Lyon demonstrie­rten sie für Fleisch in Schulen

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