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Corona-Streit: Reifeprüfung der Demokratie
Ist Deutschland in der Pandemie wirklich so zerrissen, wie viele glauben? Die Wertekonflikte nehmen zu, so das Ergebnis einer aktuellen Studie der Bertelsmann Stiftung. Doch das hat auch positive Seiten.
"Zwischen individueller Freiheit und Gemeinwohl" - schließen sich diese Ziele in der Corona-Pandemie aus oder sind sie miteinander vereinbar? Ein Team der Bertelsmann Stiftung gelangt in seiner jetzt veröffentlichten Studie zu Einsichten, die das oft anzutreffende Bild einer heillos zerstrittenen Gesellschaft infrage stellen. Denn Meinungsunterschiede etwa zur Einschränkung von Freiheitsrechten oder Impfbereitschaft seien zunächst "Ausdruck unserer vielfältigen Gesellschaft".
So sieht es Stephan Vopel, der das Programm "Lebendige Werte" der in Gütersloh im Bundesland Nordrhein-Westfalen ansässigen Stiftung leitet. Wobei er zugleich einräumt, dass solche gegensätzlichen Haltungen den "Eindruck gesellschaftlicher Zerrissenheit" vermittelten. Und Studienleiterin Yasemin El-Menouar ergänzt: "Wir müssen in Zeiten von Corona darauf achten, dass alle großen gesellschaftlichen Gruppen mit ihren Interessen gehört und in ihren Wertvorstellungen gewürdigt werden."
Die Expertin für gesellschaftlichen Zusammenhalt leitet ihre Forderung aus den Ergebnissen einer repräsentativen Umfrage ab, die im November 2020 durchgeführt wurde. Damals hatte in Deutschland gerade der zweite Lockdown begonnen. Seitdem sind drei Monate vergangen und die Debatte über Lockerungen oder schleppende Impfungen wird immer hitziger geführt. Als die Bertelsmann Stiftung fragte, wer sich auf keinen Fall oder eher nicht impfen lassen wolle, lag dieser Wert bei 34 Prozent. Anfang Februar hingegen ermittelten die Meinungsforscher von Infratest dimap für den Deutschlandtrend nur noch eine Ablehnungsquote von 21 Prozent.
Allein dieses Beispiel zeigt, wie wankelmütig die Menschen in der Krise sind und wie schnell die Stimmung umschlagen kann. Darauf muss die Politik reagieren. Dass dabei kontrovers über die Strategien der Pandemiebewältigung gerungen wird, bewerten die Bertelsmann-Forscher grundsätzlich positiv. Die vielfältigen Perspektiven, heißt es in der Studie, "ergänzen sich mit ihrer unterschiedlichen Wertschätzung etwa von Freiheit und Sicherheit
sogar".
Wenn es um konkrete Maßnahmen geht – Grenzschließungen oder Ausgangssperren – liegen mitunter Welten zwischen Befürwortern und Gegnern. Dann sei Politik gefordert, "dieses Spektrum in den Blick zu nehmen und die unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen im Umgang mit der Pandemie zu adressieren". In der Studie ist von sieben Wertemilieus die Rede: Idealisten, Humanisten, Materialisten, Beziehungsmenschen, Konservative, Macher und Selbstverwirklicher. nicht das Feld zu überlassen.
Aus diesem Grund sei nicht die kontrovers geführte Debatte das Problem, sondern es sei darauf zu achten, "wann diese Debatte kippt". Wann also bestimmte gesellschaftliche Gruppen sich mit ihren legitimen Interessen nicht mehr gehört und mit ihren Wertvorstellungen nicht mehr repräsentiert sähen. "Das zu vermeiden, ist eine anspruchsvolle Aufgabe, aber genau darauf kommt es an."
Den politisch Verantwortlichen wird attestiert, bislang im Kern richtig gehandelt zu haben. Um Infektionen einzudämmen, hätten fundamentale Grundrechte eingeschränkt werden müssen. "Das ist mit Bezug auf das hohe Gut des Lebensschutzes begründbar und somit am Gedanken des Gemeinwohls orientiert." Allerdings seien gerade die individuellen Freiheitsrechte gegenüber dem Staat eine Errungenschaft der liberalen Demokratie, "die auch in Krisenzeiten nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden darf".
Die Auseinandersetzungen als Zeichen für eine zunehmende Polarisierung in der Gesellschaft zu deuten, greift nach Überzeugung der BertelsmannExperten zu kurz. Die Wirklichkeit sei vielfältiger und eine Abgrenzung zwischen unterschiedlichen Gruppen "gar nicht so leicht zu ziehen". Das belege auch der wissenschaftliche Blick auf die Corona-Proteste. In der Studie wird auf Erkenntnisse des Soziologen Oliver Nachtwey von der Universität Basel über die "Querdenken"-Bewegung verwiesen.
Sie sei "enorm widersprüchlich und anders zusammengesetzt, als vordergründig zu erwarten wäre". Demnach stammen ihre Anhänger aus einem eher akademischen Milieu, sind tendenziell älter und die Mehrheit zählt sich selbst zur Mittelschicht. Politisch verorten sie sich zu einem großen Teil bei Grünen und Linken, aber auch Rechtsextremisten und Reichsbürger sind vertreten. Gemeinsam verfügen sie über eine enorme Mobilisierungskraft, wie sie 2020 mit ihren großen Demonstrationen überall in Deutschland gezeigt haben.
Viele "Querdenker" wird man in den Kategorien der Bertelsmann-Studie dem Milieu der Materialisten zurechnen können. Sie sind weniger universalistisch, also an allgemein gültigen Regeln orientiert, und erleben die Pandemie einseitig als Beschneidung ihrer persönlichen Freiräume. In diesem Milieu, vermutet das Team um Yasemin El-Menouar, sei die Neigung zur rechtspopulistischen Alternative für Deutschland (AfD) vergleichsweise hoch und die Impfbereitschaft besonders niedrig. Aber gerade deshalb dürfe diese Gruppe "nicht vernachlässigt werden".
Also gelte es, nach Schnittmengen zu suchen. Dazu zähle der berechtigte, von den meisten geteilte Wunsch, das Leben in seiner ganzen Fülle zu genießen. "Auch solche Sehnsüchte haben in unseren öffentlichen Debatten bislang wenig Platz." Die Herausforderung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt bestehe darin, die verschiedenen
Werthaltungen und Sichtweisen angemessen einzubeziehen, heißt es im Fazit der Studie. Dabei gehe es zunächst weniger darum, "einen umfassenden Konsens zu finden, als darum, die Vielfalt von Werthaltungen sichtbar zu machen und ihre Berechtigung anzuerkennen".
Die Corona-Pandemie sei eine tiefe gesellschaftliche Krise, in der es keine bewährten und schon gar keine einfachen Antworten gebe. Eine liberale Demokratie sei bei der Suche nach Lösungen auf andere Weise herausgefordert als ein autoritärer Staat wie China. In Deutschland und Europa gehe es nicht allein um eine konsequente Senkung der Infektionszahlen, sondern auch darum, "unsere offene demokratische Kultur durch ein relativ unbekanntes Gelände zu manövrieren, in dem es Klippen und Abgründe gibt". Das könne die Politik nicht allein leisten, das sei eine gesellschaftliche Aufgabe. "Und umso wichtiger ist es, hier alle mitzunehmen und einzubeziehen", so die Autoren der Studie.
Mediatoren-Projekte gegründet. wir doch schon immer gemacht.' Das Wort wurde unseren Menschen in die Haut tätowiert. Und dann wurden sie vergast."
Ihn und andere besorge aber "nicht nur das Z-Wort: Die steigenden Zahlen in der NeonaziSzene, deren Sympathisanten, die Hanau-Morde oder Polizisten, die sich in den Kreisen bewegen. Das ist retraumatisierend und erweckt diese Urängste, die wir seit Jahrhunderten mit uns tragen, die in der Zeit von 1939 bis 1945 den Höhepunkt erreicht haben." zialistischen Verfolgung in ganz Europa, wie sich der Antiziganismus danach fortsetzte in vielen Institutionen, zumal der rassistische Völkermord bis 1982 nicht anerkannt wurde.
Er zitiert einen Sohn von Überlebenden: "Die Kinder haben mich bösartig als 'dreckiger Zigeuner' beschimpft". Einige der Lehrer "waren ehemalige Nazis". Reuter zeigt, dass einige Schulbücher bis heute Stereotype über die Minderheit nicht widerlegen und positive Erzählungen praktisch nicht vorkommen.
Gesellschaft und Bildungssystem wären gut beraten, sagt auch Erziehungswissenschaftlerin Karin Cudak, sowohl die Verfolgungsgeschichte als auch Erfolgsgeschichten wie die vielfältigen Sinti-und-Roma-Kulturen und die Sprache Romanes in Lehrpläne und Unterrichtsmaterial aufzunehmen. Das gebe es bisher erst vereinzelt.
In Bad e n - Wür ttemb e rg wurden diese Themen durch den Staatsvertrag mit der Minderheit schon in den Lehrplänen verankert, sagt Daniel Strauß. Trotzdem hätte sich fast niemand für die angebotenen Fortbildungen angemeldet. Er fordert für Deutschland einen Bildungsfonds, mehr Informationen über Identität, Kultur und Antiziganismus und mehr Empowerment: "auf Augenhöhe mit der Minderheit etwas entwickeln". Wo es Romno-Power-Clubs für Jugendliche gebe, stiegen auch die Perspektiven für die Ausbildung.
Genau wie bei der sorbischen oder dänischen Minderheit müsse die eigene kulturelle Identität gelebt werden, schon im Kindergarten. Die ganze Vielfalt der Minderheit solle gesehen werden: "Ein Bayer ist nicht nur Bayer, sondern Frau, Mann, katholisch, evangelisch, muslimisch, jüdisch, sehr groß, klein, dick oder dünn. Bei der Minderheit hätten viele das Gefühl: "Kennt man einen, kennt man alle. Das ist nicht so!"