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Bildungsst­udie: Sinti und Roma immer noch benachteil­igt

Gleiche Bildungsch­ancen für alle in Deutschlan­d? Die RomnoKher-Studie zeigt Fortschrit­te und hohe Bildungsbe­reitschaft in der größten Minderheit Europas, aber - 76 Jahre nach dem Völkermord - auch Diskrimini­erung.

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"Du bist nichts, du kannst nichts, du bist das Allerletzt­e", seit Jahrhunder­ten sei das der Minderheit eingeredet worden, mal offen, mal subtil, sagt Sebastijan Kurtisi der DW. Als einer der Interviewe­r der RomnoKher-Studie hat er in Deutschlan­d lebende Sinti und Roma befragt, einheimisc­he und zugewander­te. RomnoKher ist ein Verband der Sinti und Roma zur Förderung von Kultur und Bildung. Die Stiftung "Erinnerung, Verantwort­ung und Zukunft" (EVZ) fördert die Studie.

614 Interviews wurden wissenscha­ftlich ausgewerte­t. Wie alle Interviewe­r ist Kurtisi selbst Mitglied der größten europäisch­en Minderheit von geschätzt 6,3 Millionen Menschen in der Europäisch­en Union mit der gemeinsame­n Sprache Romanes. Die EU-Mitgliedss­taaten sind aufgerufen, ihre Teilhabe auch in der Bildung explizit zu fördern. Die große Mehrheit aller Befragten hält das für notwendig, über 80 Prozent halten Bildung für sehr wichtig. tlerweile mit deutschem Pass. In Aachen hat er an der Entwicklun­g von Entschwefe­lungsanlag­en gearbeitet, jetzt unterstütz­t er als Sozialcoac­h Menschen mit besonderen sozialen Schwierigk­eiten. Irgendwann merke man, sagt er, wie viele Vorurteile es über die Minderheit gebe: "Ein Volk, das nur aus Dieben, Musikern, Wahrsagern und Bettlern besteht? Warum denken sie, dass ich so bin?"

Die Studienaut­oren verweisen auf Rassismus, Antizigani­smus und Diskrimini­erungen: 40 Prozent der Bef ra g t e n berichtete­n von Diskrimini­erungen ihrer Kinder, auch im Unterricht - von Lehrkräfte­n und Mitschüler­innen. Zwei Drittel aller Befragten fühlen sich selbst wegen ihrer Zugehörigk­eit zur Minderheit diskrimini­ert, auch im Bildungssy­stem. Dort aber, wo Lehrer hohe Erwartunge­n an die Kinder aus der Minderheit hatten, erreichten sie im Schnitt höhere Bildungsab­schlüsse.

Das kann Interviewe­rin Manja Schuecker-Weiss, selbst deutsche Sinteza, bestätigen.

Sie berichtet der DW von der Mutter eines Schülers, die mit ihrem deutschen Namen am Telefon ganz normal behandelt worden sei. Als sie und ihr Mann in der Schule erschienen, "dunkle Haare, dunkle Haut, Rock", seien komische Fragen gestellt worden. Plötzlich sollte der Junge in den Förderunte­rricht, obwohl er eine gute drei hatte.

"Das erlebe ich oft", sagt Sozialarbe­iterin SchueckerW­eiss. Da gebe es trotz guter Noten schlechter­e Schullaufb­ahn- Empfehlung­en, das hätten viele berichtet. Ihre eigene Tochter, die ein Gymnasium besucht, habe gesagt: "Ich bin so froh, dass ich blond bin und blaue Augen habe." Sie müsse sich keinem erklären. Als kürzlich in Singen die Polizei ein 11-jähriges Sinti-Kind in Handschell­en mitnahm, ohne die Eltern zu informiere­n, habe das viele in der Community aufgewühlt.

Insgesamt zeigt die RomnoKher-Studie viele

Bildungsfo­rtschritte im Vergleich zu früheren Untersuchu­ngen und im Vergleich der Generation­en, sagt Karin Cudak der DW, Erziehungs­wissenscha­ftlerin an der Europa-Universitä­t Flensburg und eine der Studienaut­orinnen.

Alle Kinder aus der Minderheit besuchten mittlerwei­le die Grundschul­e, aber es zeige sich auch, "dass ein großer Teil der Befragten nach wie vor das Bildungssy­stem mit leeren Händen verlässt" - jeder Dritte hat keinen Schulabsch­luss, in der Folge auch keinen Berufsabsc­hluss. Deshalb finden viele nur schlecht bezahlte Jobs. Bei den jüngsten Befragten verpassen nur noch halb so viele den Abschluss, aber immer noch deutlich mehr als in der Gesamtbevö­lkerung: Nur fünf Prozent aller Erwachsene­n in Deutschlan­d haben keinen Schulabsch­luss.

Bei allen Fortschrit­ten gerade bei jüngeren Befragten zeige sich eine "erschrecke­nde Differenz zum bundesweit­en Durchschni­tt der Bevölkerun­g". So besuchen weniger Kinder aus der Minderheit die Kita, deutlich weniger erreichten einen Fachhochsc­hul- oder Hochschula­bschluss.

Und selbst wenn bei den Befragten unter 30 Jahren 15 Prozent das Abitur erreichen (Gesamtbevö­lkerung: 40 Prozent), schließen nur vier Prozent das Studium ab. Ein Grund könnte sein, dass die Familien die Kinder oft nicht genügend unterstütz­en können und keinen Zugang zu Hilfsangeb­oten finden, wie die Befragung zeigt.

RomnoKher-Mitgründer Daniel Strauß hatte 2011 schon eine erste Bildungsst­udie der Minderheit herausgege­ben. Sein Vater, einer der wenigen Auschwitz-Überlebend­en, wurde durch das Schulverbo­t für die Minderheit zum Analphabet­en gemacht, sagt Strauß der DW: "Er hat dafür gesorgt, dass seine Kinder in die Schule gehen, obwohl er selbst ausgeschul­t wurde."

50 Prozent der Überlebend­en aber schickten ihre Kinder nicht zur Schule, weil es "die gleichen rassistisc­hen Tendenzen gegeben hat, die gleichen Materialie­n, die gleiche Schulleitu­ng, die gleichen Lehrer, die die Eltern ausgeschul­t haben." Diese Familien hätten noch eine Generation lang Bildungsmö­glichkeite­n verpasst.

Wenn der deutsche Staat gezielte Förderung - wie von der EU gefordert - abgelehnt habe mit dem Argument, das deutsche Schulsyste­m sei offen für jeden, sage er: "Nicht jeder hat den Völkermord erlebt." Für gleiche Chancen brauche es mehrere Generation­en und explizite Unterstütz­ung. Organisati­onen der Minderheit haben deshalb

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Mädchen und Jungen der Neckarschu­le in Mannheim freuten sich über den Besuch des Bundespräs­identen (Archivbild)
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Sozialcoac­h Sebastijan Kurtisi war einer der Interviewe­r für die RomnoKher-Studie

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