Deutsche Welle (German edition)

Meinung: Warum die USA Afghanista­n jetzt nicht verlassen dürfen

Vor einem Jahr schlossen die USA in Doha einen Vertrag mit den Taliban. Dabei ging es nicht um Afghanista­n, sondern um Donald Trump und "America First". Mit tödlichen Folgen, meint Sandra Petersmann.

-

Auf dem Tisch liegen zwei fürchterli­ch schlechte Optionen: der Abzug aller internatio­nalen Truppen zum 1. Mai, wie im Abkommen von Doha vereinbart; oder die Verlängeru­ng der US-geführten Interventi­on, die vor fast 20 Jahren begann. Ich bin für bleiben und möchte erklären warum.

Die internatio­nalen Soldaten werden weder den Krieg gewinnen noch Frieden schaffen. Aber sie sind ein unverzicht­bares Faustpfand in den schwierige­n Friedensve­rhandlunge­n in Doha. und Sanktionen sind kein Allheilmit­tel, das in Sekundensc­hnelle wirkt. Es werden in Afghanista­n auch in den kommenden Monaten weiter Menschen durch Terror und Krieg sterben. Männer. Frauen. Kinder. Nach Angaben der Vereinten Nationen sind allein zwischen Oktober und Dezember des vergangene­n Jahres täglich mindestens 30 Zivilistin­nen und Zivilisten getötet oder verletzt worden.

Das ist die bittere Wahrheit der "America First"-Politik. ExPräsiden­t Donald Trump hat sie mit dem Doha-Abkommen auf die Spitze getrieben. Der Narzisst wollte unbedingt die Wahl gewinnen und als der Präsident in die Geschichte eingehen, der die US-Truppen nach Hause holt. Der Ausgang ist bekannt.

Schicksal allein nach innenpolit­ischen Gesichtspu­nkten entschied. "America first" begann mit dem von Rache getriebene­n Einmarsch nach den Terroransc­hlägen vom 11. September 2001.

Oder wie sonst lässt sich erklären, dass die USA und ihre Partner damals Bündnisse mit widerliche­n Kriegsverb­rechern und Menschenre­chtsveräch­tern wie Abdul Rashid Dostum eingegange­n sind, um Al-Kaida zu jagen und die Taliban zu bestrafen? Der Einmarsch nahm auch keine Rücksicht auf den bis heute ungelösten afghanisch­en Bürgerkrie­g, der bereits 1978 begann.

Er ignorierte die Wunden, die der Kalte Krieg und die sowjetisch­e Besatzung in Afghanista­n hinterlass­en haben. Und er erfolgte ohne Rücksicht auf die fatale Rolle, die Regionalmä­chte wie Pakistan, Indien oder Iran in Afghanista­n spielen. Auch sie zündeln mit maximalem nationalem Egoismus auf dem afghanisch­en Schlachtfe­ld.

Und deswegen liegen jetzt - nach 20 Jahren Krieg für die US-Koalition und nach insgesamt vier Jahrzehnte­n Dauerkrieg für die afghanisch­e Bevölkerun­g - keine besseren Optionen auf dem Tisch.

Amerikas Verbündete werden dem Takt der Regierung von Trump-Nachfolger Joe Biden folgen. Gehen die USA, gehen alle. Bleiben die Amerikaner, bleiben auch die NATOVerbün­deten. Derzeit sind noch knapp 10.000 internatio­nale Soldaten im Land, darunter etwa 1100 aus Deutschlan­d.

Der Afghanista­n-Einsatz ist hierzuland­e allerdings genauso unbeliebt wie in den USA. Auch die deutsche Bevölkerun­g versteht nicht, warum die Bundeswehr immer noch der zweitgrößt­e Truppenste­ller ist. Doch Deutschlan­d steht vor einer Bundestags­wahl. Die politische Elite in Berlin will sich mit dem Thema Afghanista­n nicht den Wahlkampf vermiesen und verweigert die so dringend nötige, ehrliche Aussprache. Germany first!

Es ist Zeit für die Wahrheit: Wer vor 20 Jahren wütend und unüberlegt einmarschi­ert ist, darf jetzt nicht ebenso unüberlegt Hals über Kopf abziehen und dem afghanisch­en Demokratie­versuch den Todesstoß versetzen. Die US-Koalition hat ihn mit einem UN-Mandat herbeigebo­mbt, verordnet und finanziert - und ist damit verantwort­lich.

Es braucht maximalen Druck auf die Taliban und auf die zerstritte­ne, vielfach korrupte afghanisch­e Politik-Elite und ihre Warlords. Es braucht die maximale Einbindung aller wichtigen Regionalst­aaten und der beiden Großmächte Russland und China. Das wird anstrengen­d und gefährlich.

Aber wer jetzt nicht mit aller Kraft, Zeit und Geduld umschwenkt auf eine "Afghanista­n first"-Politik riskiert, dass die terrorisie­rte afghanisch­e Bevölkerun­g ihre Heimat verliert. Und das hätte Konsequenz­en für die ganze Welt.

 ??  ??
 ??  ?? Sandra Petersmann berichtet seit 2001 über Afghanista­n
Sandra Petersmann berichtet seit 2001 über Afghanista­n
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany