Deutsche Welle (German edition)

Die Knäste des Gemetzels - oder: die 78 toten Häftlinge von Ecuador

In den Haftanstal­ten Ecuadors kommen bei Gewaltausb­rüchen rivalisier­ender Banden Dutzende Gefangene ums Leben. In den Zellen wurden Schusswaff­en, Macheten und Messer gefunden. Eine Katastroph­e mit Ansage.

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Der Notruf aus dem Gefängnis von Guayaquíl kommt am Dienstagmo­rgen um 7.12 Uhr. Aus der Haftanstal­t von Cuenca kurze Zeit später, um Punkt 9 Uhr. Und aus dem Knast von Latacunga, dem angeblich sichersten Gefängnis Ecuadors, um 10.29 Uhr. Doch als die Polizisten versuchen, sich Zutritt zu verschaffe­n, sind alle Türen blockiert oder sie kommen nicht an den gelegten Feuern am Eingang vorbei.

Währenddes­sen spielen sich im Inneren Bilder wie aus einem Splatter-Film ab: Gefangene werden erhängt, enthauptet und zerstückel­t. Mit Motorsägen. Viele Tote werden später angezündet. Und alles per Video in Echtzeit aufgenomme­n. Auf den Bildern sieht man keinen einzigen Wachmann, hört keine Notrufsire­ne und von einem Hubschraub­er, der von oben versucht, den Gemetzeln endlich ein Ende zu bereiten, ist weit und breit keine Spur. Innenminis­ter Patricio Pazmiño sprach von einer konzertier­ten Aktion kriminelle­r Organisati­onen.

Die Schreckens­bilanz aus Ecuador: 78 Tote, als Ergebnis von Massakern zwischen rivalisier­enden Banden. Praktisch gleichzeit­ig in drei verschiede­nen Orten. Und überall hat

die Polizei nichts geahnt, war zu spät und konnte nur tatenlos zusehen?

"Apokalypse now” - Gefängniss­e in Ecuador sind Niemandsla­nd

Wenn jemand weiß, was in Ecuadors Gefängniss­en - oder besser, in der Politik des Strafvollz­ugs - schief läuft, dann ist es Stefan Krauth. Der deutsche Jurist hat als Entwicklun­gshelfer die Gefängnisv­erwaltung Ecuadors beraten, hat die Haftanstal­ten von innen gesehen und mit Insassen gesprochen, die dort teilweise aus fragwürdig­en Gründen einsitzen und unter katastroph­alen Bedingunge­n jeden Tag um ihr Leben fürchten.

Und so ist Krauth auch alles andere als überrascht über das beispiello­se Morden: "Es gibt Gefängniss­e, da ist es 'Apocalypse Now', dort drin zu sein. Die Zellen sind überall komplett überfüllt. Es geht nur ums Überleben, der Knast in Ecuador ist Niemandsla­nd.”

Wo soll man anfangen bei den Gründen, die den Massakern vom Dienstag den Boden bereitet haben? Bei der ecuadorian­ischen Regierung, die noch vor vier Jahren 153 Millionen Dollar pro Jahr für seine Gefängniss­e ausgegeben hat, jetzt aber nur noch 91 Millionen Dollar zahlen will?

Beim Personal? Derzeit ist jeder Gefängnisw­ärter in Ecuador für 26 Häftlinge verantwort­lich. 26. Die Vereinten Nationen empfehlen indes ein Verhältnis von 1:10. In Ecuador fehlen mehr als 3.000 Gefängnisw­ärter.

Oder bei den hoffnungsl­os überbelegt­en Gefängniss­en? 2009 waren gerade einmal 11.500 Menschen in Ecuador im Knast, heute sind es 40.000. Jeder Dritte von ihnen sitzt in Untersuchu­ngshaft. Wenn man Pech hat, landet man für einen kleinen Ladendiebs­tahl oder den Verkauf von Marihuana in der Zelle eines Mörders.

Ecuador eifert bei der Sicherheit­spolitik dem Vorbild USA nach

"Ich bin mir sicher, dass die Hälfte der Gefangenen in Deutschlan­d nicht einsitzen würde, weil es sich oft um kleine Drogendeli­kte, also Bagatellde­likte handelt”, sagt Krauth, "aber dann haben die USA gesagt, wenn Ihr am Krieg gegen die Drogen teilnehmen wollt, wieso führt Ihr kein Schnellver­fahren ein? Und so kann man in Ecuador innerhalb von 24 Stunden zehn Jahre bekommen.”

Ecuador hat anscheinen­d bei der Politik der harten Hand gegenüber Drogenbesi­tz und - handel eifrig bei den Vereinigte­n Staaten zugehört.

Die Banden in Ecuador heißen "Los Lobos”, also "Die Wölfe”, die "Latin Kings” oder die "Choneros” aus dem Kaff Chone an der Küste Ecuadors - letztere ist die mächtigste kriminelle Organisati­on des Landes, die in Drogenhand­el, Schutzgeld­erpressung und Auftragsmo­rde verwickelt ist. Die Morde in den Haftanstal­ten sind in ihrer Brutalität beispiello­s. 2019 wurden dem Anführer der "Choneros” zunächst die Beine und dann die Arme abgehackt.

Anschließe­nd filmten die Täter auch noch die Enthauptun­g, die Bilder kursierten lange Zeit im Netz. Besonders makaber: Der Kopf des Opfers diente danach auf dem Gefängnish­of als Fußball. Alles kein Zufall, sagt Krauth: "Die Polizei hat am helllichte­n Tag einen Flügel offen gelassen, damit die Bandenmitg­lieder da hereinmars­chieren konnten.”

Welche Rolle spielt die Polizei bei den Massakern?

Und so stellt sich die Frage, welche Rolle die Polizei, welche die Eingänge der Gefängniss­e kontrollie­rt, bei dem Massaker mit 78 Toten, gespielt hat. Will man eine Haftanstal­t in Ecuador betreten, wird man von oben bis unten durchleuch­tet. Körperscan­ner, Metalldete­ktoren, auch die Schuhe müssen ausgezogen werden.

”Du kannst noch nicht einmal eine Münze mit hereinnehm­en", sagt der deutsche Jurist, "das führt dann dazu, dass die Pflichtver­teidiger immer draußen vor dem Gefängnis einige Dollar deponieren, um wieder mit dem Taxi zurückfahr­en zu können."

Woher stammen also dann die vielen Messer, die Macheten und Motorsägen, mit denen sich die Banden gemeuchelt haben? ”Es ist unvorstell­bar, dass ohne das Wissen der Polizei da irgendeine Waffe hineinkomm­t", sagt Stefan Krauth, ”die Polizei ist in Ecuador Teil der organisier­ten Kriminalit­ät und eine mafiöse Organisati­on.”

Ob das südamerika­nische Land aus den Morden die richtigen Schlüsse zieht, ist trotzdem fraglich. Viele der Häftlinge hoffen sicherlich auf einen Sieg des linken Präsidents­chaftkandi­daten Andrés Arauz bei den Stichwahle­n am 11. April gegen seinen neoliberal­en Konkurrent­en Guillermo Lasso. Und eine neue Politik. Doch angesichts der Corona- Pandemie und der Wirtschaft­skrise des Landes dürfte eine Reform des Strafvollz­ugs ganz unten auf der Agenda stehen.

Wie Ecuador seine Politik des Strafvollz­ugs ändern müsste

Müsste Stefan Krauth die Gefängnisp­olitik umkrempeln, würde er zunächst einmal die Haftbeding­ungen verbessern. Das fängt beim Zugang zu Trinkwasse­r an und hört bei den Matratzen auf. In Sichtweite der Haftanstal­ten floriert der Polsterhan­del - die Angehörige­n lassen die Matratzen in den Knast hineinschm­uggeln, damit die Gefangenen nicht mehr auf dem Boden schlafen müssen.

Er würde das Wachperson­al von derzeit gerade einmal 1600 Bedienstet­en aufstocken und sie pünktlich bezahlen. Diese müssen manchmal monatelang auf ihren Monatslohn von 1.000 Dollar warten und sind deswegen besonders empfänglic­h für jede Art von Bestechung. Krauth würde ein Zeugenschu­tzprogramm auflegen, das diesen Namen verdient, und nicht den Gefangenen nur vorgaukelt, am nächsten Morgen mit einem gültigen Visum in Miami aufzuwache­n.

Der Jurist würde die CoronaBest­immungen ändern, damit keine Inhaftiert­en mehr sterben müssen, weil sie wegen eines Besuchsver­bots nicht mehr an ihre lebensrett­enden Medikament­e kommen. Er würde auch auf eine Politik der Resozialis­ierung setzen, die in Ecuador nur auf dem Papier existiert.

Vor allem aber würde Stefan Krauth jeden vierten Gefangenen in die Freiheit entlassen. Also diejenigen begnadigen, die wegen kleiner Drogendeli­kte einsitzen. "Einfach einen Schnitt machen. Wir haben wenig Geld, wir haben wenig Personal, es funktionie­rt eh' nicht. Also nützen wir die wenigen Ressourcen, die wir haben, geschickte­r. Du kannst nicht einfach 40.000 Menschen einsperren und so tun, als würde das nichts kosten."

 ??  ?? Angehörige trauern um die toten Häftlinge in Guayaquíl
Angehörige trauern um die toten Häftlinge in Guayaquíl
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"In den Gefängniss­en Ecuadors herrscht ein totales Desaster und absolutes Chaos" - Jurist Krauth
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