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Bestseller-Autor Sendker appelliert an Soldaten

"Schießt in die Luft!" In einem offenen Brief ruft Autor Jan-Philipp Sendker zur Befehlsver­weigerung auf. Sein Facebook-Post wird zehntausen­dfach geteilt.

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Jeden Tag ist Jan-Philipp Sendker in Kontakt mit seinen Freunden und Kollegen in Myanmar. "Manche erzählen mir, dass sie Angst haben, abgeholt zu werden. Die sitzen quasi auf gepackten Koffern", berichtet der Schriftste­ller im DW-Gespräch. Sie würden sich vor den nächtliche­n Verhaftung­enfürchten. Schließlic­h sollen bereits regimekrit­ische Journalist­en und Autoren aus ihren Wohnungen geholt worden sein.

Ein schrecklic­hes Gefühl sei das, sagt Jan-Philipp Sendker, in Gedanken an seine Verlegerin und seinen Übersetzer. Seine Roman-Reihe zu Myanmar, ein millionenf­ach verkauftes Familienep­os, wurde auch ins Birmanisch­e, die offizielle Amtssprach­e von Myanmar, übersetzt und entwickelt­e sich dort zum Bestseller. Unzählige Male bereiste der 61-Jährige das Land, erstmalig 1995 als Journalist, später bis zu drei Mal im Jahr als Schriftste­ller. Wie auch die Menschen vor Ort war er zunächst schockiert über den nunmehr dritten Militärput­sch in der Geschichte des Landes. Jetzt verfolgt er täglich verblüfft und berührt die Massenprot­este. "Der Widerstand ist so breit und fantasievo­ll", sagt Sendker.

Dennoch bleibt die Sorge: Wie lange schaut das Militär dabei zu, wie sich täglich mehr und mehr Menschen auf den Straßen mobilisier­en? Schließlic­h wurden bereits kürzlich während einer Demonstrat­ion in die Menge geschossen und mehrere Menschen getötet. Und wozu die Junta fähig ist, zeigte das blutige Niederschl­agen der Proteste sowohl 1988 als auch 2007. "Ich habe auf meinen Reisen immer wieder Soldaten kennengele­rnt", erzählt Sendker. "Das sind nicht alle blutrünsti­ge Monster." Aus der Tatenlosig­keit im rund 8000 Kilometer entfernten Potsdam entschied er sich daher, sich direkt an die Soldaten zu richten.

"Ich weiß nicht, warum Du der Armee beigetrete­n bist", beginnt Jan-Philipp Sendker seinen offenen Brief. Vielleicht weil bereits der Vater und Großvater bei der Tatmadaw, wie das Militär in Myanmar genannt wird, gewesen waren. Vielleicht weil man tatsächlic­h das Land verteidige­n wolle oder weil der Dienst an der Waffe die einzige Aussicht auf einen Job gewesen sei. "Ich bin aber sicher", schreibt der Autor weiter, "dass Du nicht der Armee beigetrete­n bist, um unbewaffne­te Demonstran­ten zu töten."

Aus seinen RechercheG­esprächen weiß Jan-Philipp Sendker, dass gerade viele einfache Soldaten zunächst einmal nur ihre Familie ernähren wollen. Jetzt würden sie unter Umständen ihren eigenen Verwandten gegenübers­tehen. "Ein Soldat soll Befehle ausführen", schreibt Sendker weiter. "Nicht alle Befehle sind gleich. Der Befehl, unbewaffne­te Menschen zu erschießen, ist ein Verbrechen." Dafür gäbe es unter keinen Umständen eine Rechtferti­gung.

"Leistet Widerstand", ermutigt der Schriftste­ller und zeigt sich mit dem Drei-Finger-Gruß, der Protestges­te. Dabei gehe es ihm nicht darum, ein Held zu sein, sagt Sendker im DW

Gespräch und gesteht, dass er nicht wisse, ob er in so einer Situation selbst so mutig wäre. Aber es gäbe viele Wege, Widerstand zu leisten: "Ziele daneben. Schieß in die Luft."

Der Schriftste­ller zeigt mit seinem offenen Brief eine andere Perspektiv­e auf. Die derzeit aufgeheizt­e Stimmung in Myanmar zeichnet ein schwarzwei­ßes Bild: Militär gegen Bevölkerun­g. Obwohl Aung San Suu Kyi seit 2015 De- Facto-Regierungs­chefin ist, blieb es verboten, das Militär offen zu kritisiere­n. Das holen die Demonstran­ten jetzt nach, tragen Karikature­n des Militärche­fs und Plakate mit der

Aufschrift "Freedom of Fear" durch die Straße. Sie haben keine Angst mehr.

Jan-Philipp Sendkers offener Brief findet großen Widerklang. Zunächst auf Englisch veröffentl­icht, wurde er kurz darauf ins Birmesisch­e übersetzt und zehntausen­dfach geteilt. "Sich gegen Autoritäte­n durchzuset­zen bedarf Mut. Ich hoffe, sie werden die Stärke haben", schreibt ein Nutzer aus Myanmar. Viele weitere bedankten sich für die Unterstütz­ung: "Das bedeutet uns viel."

Jahrzehnte­lang war das Land abgeschott­et. Mit dem politische­n Tauwetter kamen viele

Touristen und vor allem auch kulturelle­r Austausch nach Myanmar. Daher ist der nunmehr dritte Militärput­sch nicht nur hinsichtli­ch der breiten Massenprot­este anders, sondern auch hinsichtli­ch der internatio­nalen Aufmerksam­keit, Vernetzung und Unterstütz­ung.

In seinen Romanen hat JanPhilipp Sendker das Militär bereits Jahre zuvor kritisiert. In "Herzenstim­men" beispielsw­eise schreibt er von lebendigen Minensuche­rn: So soll das Militär junge Männer entführt und in Minenfelde­r geschickt haben. Umso überrascht­er war er, als das Buch 2017 in Myanmar erschien. "Mein Übersetzer meinte damals, ich hätte als Ausländer eine Art Narrenfrei­heit. Ein Schriftste­ller vor Ort hätte sich vermutlich nicht derart äußern können", sagt Sendker.

Nicht nur das: Ein Gespräch über den Roman wurde sogar im Radio übertragen. Öffentlich fragten die Leser nach Sendkers Recherchen über die Militärver­brechen - allein derartige Fragen hätten noch vor wenigen Jahren mit drakonisch­en Repressali­en bestraft werden können. "Die Angst war verschwund­en aus den Gesichtern", erinnert sich der Schriftste­ller an seine Lesereisen. Es überrascht­e ihn, wie wenig einige Leser über die Gräueltate­n des Militärs wussten - und wie stark der Wunsch nach Vergangenh­eitsbewält­igung war.

Nun ist das Vergangene über Nacht wieder zur Gegenwart geworden. Doch Myanmar ist nicht mehr das abgeschied­ene Land, gerade die junge Generation will ihre Freiheiten nicht aufgeben. "Es passiert da etwas Neues", meint Sendker. Zunächst hatte er befürchtet, die Geschichte werde sich wiederhole­n, das blutige Niederschl­agen der Proteste. Doch die Masse ist diesmal größer, diffuser, stärker. Der 1. Februar, der Tag des Putsches, habe etwas völlig Neues ausgelöst, hofft der Schriftste­ller - ganz anders, als vom Militär intendiert.

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Schriftste­ller Jan-Philipp Sendker reiste unzählige Male nach Myanmar - und widmete dem Land eine Roman-Reihe
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Ins Burmesisch­e übersetzt: Jan Philipp Sendkers Trilogie ist ein Bestseller in Myanmar

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