Deutsche Welle (German edition)

Corona: Turbo für die deutsche Impfkampag­ne?

Der Druck wächst, wie in Großbritan­nien den Abstand zwischen beiden Impfungen zu strecken. Das könnte laut einer Studie bis zu 15.000 Menschenle­ben retten.

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Kurz vor dem Treffen von Bundeskanz­lerin Angela Merkel mit den Ministerpr­äsidenten der deutschen Bundesländ­er am Mittwoch wächst der Druck auf die Ständige Impfkommis­sion ( Stiko), ihre strengen Empfehlung­en für die Verwendung gleich mehrerer Impfstoffe zu lockern. Bislang schließt die Impfempfeh­lung für das britisch-schwedisch­e Vakzin des Hersteller­s AstraZenec­a die

Verwendung bei über 65-jährigen aus. Die Impfexpert­en verweisen darauf, dass bei ihrer Erstempfeh­lung nicht ausreichen­d Daten für die Wirkung bei älteren Menschen vorgelegen hätten.

Am Montag hat der französisc­he Gesundheit­sminister Olivier Véran angekündig­t, dass sein Land diesen Impfstoff auch bei 65- bis 75Jährigen verimpfen wird, die unter Vorerkrank­ungen leiden. In Deutschlan­d könnten bis Freitag dieser Woche mehrere Millionen Dosen von AstraZenec­a unverimpft im Kühlschran­k liegen bleiben, vor allem weil das bereits impfberech­tigte medizinisc­he Personal die neuartigen mRNA-Impfstoffe der Hersteller BioNTech/Pfizer und Moderna bevorzugt.

Der in Großbritan­nien beliebte und hochwirksa­me AstraZenec­a-Impfstoff hat in Deutschlan­d ein Imageprobl­em. "Das Ganze ist irgendwie schlecht gelaufen", räumte der Leiter der Impfkommis­sion, Thomas Mertens, in einem Interview mit dem Zweiten Deutschen Fernsehen ein - und muss seitdem viel Kritik einstecken.

Massiver Schutz schon

durch Erstimpfun­g

Ohnehin könnte Deutschlan­d seine straucheln­de Impfkampag­ne trotz knappen Impfstoffs massiv beschleuni­gen. Das sagt der Berliner Pandemie-Forscher Dirk Brockmann im COVID-19Videopod­cast der DW. Dazu müsste der Abstand zwischen Erst- und Zweitimpfu­ng der neuartigen mRNA- Impfstoffe der Firmen BioNTech/Pfizer und Moderna von derzeit 28 Tagen gestreckt werden, "also, dass man nicht die zweite Dosis in den Kühlschran­k legt und wartet".

Der Forscher von der Berliner Humboldt-Universitä­t errechnet in einer aktuellen Studie, dass damit "bis zu 10.000 oder 15.000 Menschen weniger sterben" würden. "In dem Szenario, wo sich eine dritte Welle anbahnt, könnten wir sehr viel mehr Leute vor Tod und schwerer Erkrankung in den Risikogrup­pen schützen."

Brockmann veröffentl­icht am Montag eine gemeinsame Studie mit Studie mit Ben Maier (ebenfalls Humboldt-Universitä­t zu Berlin) sowie Michael MeyerHerma­nn vom deutschen Helmholtz-Zentrum für Infektions­forschung, dem deutschen Gesundheit­spolitiker Karl Lauterbach (SPD) und anderen. Darin gehen die Wissenscha­ftler davon aus, dass leichter übertragba­re Virus-Varianten auch in Deutschlan­d die Oberhand gewinnen werden. Wenn doppelt so schnell geimpft würde, könne der Effekt enorm sein, so Brockmann.

Tatsächlic­h zeigen verschiede­ne Studien aus Schottland, Israel und den USA, dass schon die Erstimpfun­g einen massiven Schutz entfaltet. "Nach Datenlage einen kompletten Schutz gegen Tod durch COVID in den Risikogrup­pen. Das ist ein Riesengewi­nn", sagt Brockmann. Doch der Strategiew­echsel müsste schnell umgesetzt werden.

Großbritan­nien impft so viele und so schnell wie möglich

Dazu müsste die Ständige Impfkommis­sion in Deutschlan­d ihre bisherige Empfehlung ändern.In der folgte sie bislang den Vorgaben bei der Zulassung der europäisch­en Arzneimitt­elbehörde EMA.Demnach sollten zwischen Erstund Zweitimpfu­ng des BioNTech-Impfstoffs nicht mehr als drei bis vier Wochen liegen, damit der Impfstoff optimal wirkt. Die zentrale Gesundheit­sbehörde in Frankreich, HAS, ist davon bereits am 23. Januar ausgescher­t und empfiehlt eine Spanne von 42 Tagen für den BioNTech-Impfstoff. In Großbritan­nien sind es 90 Tage.

Im Ergebnis können mehr Menschen die Erstimpfun­g schon jetzt erhalten, trotz noch immer knapper Lieferunge­n. "Normalerwe­ise müssten wir uns an alle Vorgaben halten. Dies sind jedoch keine normalen Umstände", erläuterte Robert Read vom britischen Ausschuss für Immunisier­ung gegenüber der DW bereits im Januar.

"Wir müssen so viele Menschen wie möglich impfen, so schnell wie möglich. Und es ist unsere Einschätzu­ng, dass dadurch kein Schaden für unsere Bevölkerun­g entsteht. Eher entsteht - wenn wir das nicht so machen - ein beträchtli­cher Schaden durch die verlorenen Möglichkei­ten", so Read.

In Großbritan­nien lag der Spitzenwer­t der Tagesimpfu­ngen in dieser Woche bei fast 450.000 Spritzen, in Deutschlan­d bei 170.000. Ein Drittel der Briten haben bislang eine erste Impfung erhalten - neben den beiden mRNA-Impfstoffe­n vor allem auch den Vektorimpf­stoff von AstraZenec­a und der Oxford-Universitä­t. Doch der Erfolg liegt nicht nur am früheren Impfbeginn Anfang Dezember, sondern eben auch an der Streckung der Impfabstän­de bei den neuartigen mRNA-Impfstoffe­n, ist der britische Impfexpert­e Read überzeugt.

Deutsche Impfkommis­sion denkt an Strategiew­echsel

Sein deutscher Kollege, StikoChef Thomas Mertens, schwenkt jetzt möglicherw­eise auf die britische Strategie um. Im Gespräch mit der DW sagt Mertens: "Ich habe keine Probleme damit, auf der neuen Datengrund­lage einer Verlängeru­ng zuzustimme­n. Es wäre allerdings ein Überschrei­ten der ursprüngli­chen Zulassung, was möglicherw­eise rechtliche Probleme mit sich bringt." Das bezieht sich auf die in Großbritan­nien praktizier­ten 90 Tage, schon jetzt wären auch innerhalb der EMA-Zulassung sechs Wochen möglich.

Mertens verweist darauf, dass sich seit der Impfempfeh­lung seiner Kommission zum Jahreswech­sel die Datenlage über die neuartigen Impfstoffe verändert habe. "Zu dem Zeitpunkt unserer Empfehlung wusste man noch sehr viel weniger über die Dauer der Immunität. Zum anderen gab es die Befürchtun­g, dass man durch viele Teil-Immunitäte­n einen stärkeren Selektions­druck bekommt und dem Virus die Chance gibt sich weiter zu entwickeln."

Das macht es aber ohnehin: In vielen EU-Staaten setzen sich ansteckend­ere VirusVaria­nten durch. Jetzt denkt die deutsche Impfkommis­sion über 60 oder sogar 90 Tage als Zeitraum bis zur zweiten mRNAImpfun­g nach. Möglicherw­eise schon im März, eventuell gemeinsam mit einer Empfehlung für den Impfstoff des Hersteller­s Johnson&Johnson, für den eine Zulassung in der EU in Kürze erwartet wird. Dann könnte auch die Empfehlung für den Vektor-Impfstoff von AstraZenec­a überarbeit­et werden.

Großer Druck für CoronaLock­erungen

Schneller Impfen bedeutet die Rettung von Menschenle­ben - und Lockerunge­n von Freiheitse­inschränku­ngen. Die neue Impfstudie von Brockmann, Maier und Meyer-Hermanners­cheint kurz vor dem nächsten Treffen von Bundeskanz­lerin Angela Merkel mit den deutschen Ministerpr­äsidenten am Mittwoch. Der politische Druck ist groß, weitere CoronaMaßn­ahmen zu lockern.

Dabei gehen die Neuinfekti­onen seit Mitte Februar nicht mehr weiter zurück, sehr wahrschein­lich wegen der gefährlich­eren Virus- Mutanten. Im Beschluss-Entwurf für das Treffen findet die Veränderun­g des nationalen Impfprotok­olls bislang keine Erwähnung. Das Papier liegt der DW vor. Allerdings hat auch Merkel die Studie erhalten. Der Berliner PandemieMo­dellierer Brockmann plädiert deshalb auch dafür, den VektorImpf­stoff von AstraZenec­a-Oxford jetzt verstärkt an die Gruppe jüngerer Menschen zu verimpfen, "weil die das Infektions­geschehen antreibt".

Die Bundesregi­erung hat vergangene Woche veranlasst, dass damit jetzt auch Lehrer und Erzieher in Kindergärt­en in Deutschlan­d geimpft werden können. Der Pandemiefo­rscher geht einen Schritt weiter und fordert "in der ersten Hälfte des zweiten Quartals mit den Impfstoffe­n in die junge Bevölkerun­g zu gehen". Großbritan­nien impft seit dem 15. Februar bereits junge Menschen über 16 mit Vorerkrank­ungen.

Dieser Text wurde nach Verö entlichung der zitierten Studie um weitere Entwicklun­gen aktualisie­rt.

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Bisher folgt die zweite Impfung des Pfizer-BioNTech-Impfstoffs drei bis vier Wochen nach der ersten
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Geimpft wird in Großbritan­nien auch im Einkaufsze­ntrum - hier in London Mitte Februar

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