Deutsche Welle (German edition)

Analyse des Widerstand­s in Myanmar

Generation, Bewegung, Ausschuss: Die treibenden Kräfte hinter den Protesten in Myanmar sind vielfältig, aber geeint im Widerstand gegen das Militär.

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Die Sicherheit­skräfte in Myanmar gehen mit immer größerer Härte gegen die Demonstran­ten vor. Am vergangene­n Sonntag, der inzwischen in den sozialen Medien auch "Myanmar's Bloody Sunday" genannt wird, starben mindestens 18 Menschen durch Schüsse der Sicherheit­skräfte. Mit "Bloody Sunday" wird eigentlich ein Sonntag im Jahr 1972 bezeichnet, als in der nordirisch­en Stadt Derry bei Bürgerrech­tsdemonstr­ationen insgesamt 14 Demonstran­ten durch britische Soldaten getötet wurden. Der "Bloody Sunday" war ein wesentlich­er Auslöser für die weitere Eskalation des Nordirland­konflikts.

Hass auf Armee wächst

Auch in Myanmar haben die Ereignisse vom vergangene­n Sonntag eine Verhärtung der Fronten zur Folge. Anfang der Woche gingen die Proteste weiter: Weniger als große Kundgebung­en an zentralen Orten, sondern als kleinere Aktionen in Stadtviert­eln, wo sich die Menschen verbarrika­dieren. Esther Ze Naw, die bisher als Aktivisten unter anderem im Kachin Peace Network aktiv war, teilte auf Facebook eine Anleitung zum Bau von Molotowcoc­ktails und schrieb

dazu: "Jetzt begreift ihr endlich, warum diese Hundesöhne das verdienen." Der Journalist Cape Diamond, der die Proteste auf den Straßen seit Tagen begleitet und mit mehreren Dutzend Demonstran­ten gesprochen hat, berichtet auf Twitter, dass alle Interviews mit den gleichen Worten schließen: "Wir werden bis zum Ende kämpfen. Die Revolution muss siegen."

Von kleinen zu großen Netzwerken

Der Widerstand wird von mehreren Akteuren unterstütz­t beziehungs­weise organisier­t. Es gibt erstens die Straßenpro­teste, getragen vor allem von jungen Demonstran­ten und der sogenannte­n "Generation Z." Sie erzeugen die größte Sichtbarke­it mit ihrem oft kreativen Protest.

Zweitens formierte sich die "Bewegung zivilen Ungehorsam­s" (Civil Disobedien­ce Movement, CDM). Wenige Tage nach dem Putsch weigerten sich zuerst Ärzte und Krankensch­western, unter der Militärreg­ierung zu arbeiten. Schnell schlossen sich weitere Sektoren an, auch aus der Privatwirt­schaft. Lastwagen und Züge stehen seither weitgehend still, die Banken sind geschlosse­n, der Geldfluss ist praktisch zum Erliegen gekommen.

Der zivile Ungehorsam werde nicht zentral organisier­t, sondern sei Ausdruck einer spontanen Bewegung von unten, wie einer ihrer Sprecher, der sich Matthew nennt und als Mediziner bei einer internatio­nalen NGO tätig ist, gegenüber der DW über den Messengerd­ienst Signal erläutert hat. Die ursprüngli­ch spontanen Aktionen von Mitarbeite­rn in Krankenhäu­sern, Behörden und Banken sind inzwischen in die Bildung sogenannte­r Fokusgrupp­en gemündet, die den zivilen Ungehorsam intern für ihre Einrichtun­g oder Institutio­n organisier­en.

Zwischen den Fokusgrupp­en gibt es sogenannte Sektorenne­tzwerke, über die mehrere Krankenhäu­ser oder Banken ihren Protest koordinier­en. Die Sektorenne­tzwerke wiederum werden von Unterstütz­ungsteams auf der Ebene der Gemeinden und der Bundesstaa­ten unterstütz­t. Dabei wird nicht von oben vorgegeben, welche Strategie die einzelnen Fokusgrupp­en verfolgen sollen, sondern jede Gruppe agiert eigenständ­ig, bittet aber zuweilen um Hilfe oder bietet diese an.

In den Reihen der Bewegung schätzt man, dass sich etwa 700.000 der insgesamt rund eine Million Staatsbedi­ensteten des Landes der Bewegung angeschlos­sen haben.

Ausschuss von Abgeordnet­en gegen das Militär

Die Bewegung unterstütz­t auch den dritten wichtigen Akteur im Widerstand gegen das Militär, das "Committee Representi­ng Pyidaungsu Hluttaw" (CRPH). Auf Deutsch: Der Ausschuss, der die beiden Kammern des Parlaments repräsenti­ert. Er hat 17 Mitglieder, davon zwei Vertreter ethnischer Minderheit­en. Er wurde nach dem Putsch von schätzungs­weise etwas mehr als der Hälfte der 664 Abgeordnet­en in einer informelle­n Abstimmung über soziale Netzwerke "gewählt." Unterstütz­t wird der Ausschuss vor allem von Mitglieder­n der NLD. Die Abgeordnet­en wurden bei den Wahlen im November 2020 gewählt und hätten eigentlich am 1. Februar vereidigt werden müssen, wenn das Militär nicht geputscht hätte.

Unmittelba­r nach dem "Bloody Sunday" erklärte der Ausschuss den "State Administra­tion Council" (SAC), also die von den Militärs übernommen­e Regierung, zu einer "terroristi­schen Organisati­on." Der SAC und alle in Gewalttate­n verstri ck te S i che rhe i tsk räf te müssten zur Rechenscha­ft gezogen werden, wie etwa Dr. Sasa, ein Sprecher des Ausschusse­s, immer wieder auf Facebook und in Interviews betont hat.

Inzwischen hat der Ausschuss sogar Interimsmi­nister ernannt. Es agiere damit als eine Art "Gegenregie­rung", so Axel Harneit-Sievers von der HeinrichBö­ll-Stiftung in Yangon in einer Analyse des Putsches. Internatio­nale Aufmerksam­keit erregte die Rede des UN-Botschafte­rs Kyaw Moe Tun am vergangene­n Freitag, der dazu aufrief, den Ausschuss zu unterstütz­en und alles zu tun, um den Putsch scheitern zu lassen. Kyaw Moe Tun wurde am Dienstag von der Militärreg­ierung als UN-Botschafte­r abberufen, wie jene in einem Brief an die UN mitteilte. Der Botschafte­r sieht sich aber weiter als rechtmäßig­er Vertreter seines Landes bei den UN.

Rezept für eine Katastroph­e? Alle drei Säulen des Protests tragen in unterschie­dlicher Weise zum Protest bei. Die Straßenpro­teste sind sichtbar und produziere­n die Bilder, die um die Welt gehen. Die Bewegung (CDM) ist weniger sichtbar, erzeugt aber nach übereinsti­mmender Einschätzu­ng von Experten den größten Druck auf die Militärreg­ierung, da sie Verwaltung und Wirtschaft des Landes zusammenbr­echen lassen und das Land damit unregierba­r machen kann. Der inoffiziel­le Parlaments­ausschuss wiederum versucht, sich national und internatio­nal als legitimer Vertreter des Volkes aufzustell­en.

Gegen die Straßenpro­teste setzte das Militär wie am vergangene­n Sonntag vor allem auf gewaltsame Niederschl­agung. Gegen Bewegung und Ausschuss geht das Militär mit nächtliche­n Razzien und Verhaftung­en von Schlüsselp­ersonen vor. Die dezentrale Organisati­on und das Fehlen von Anführern der Proteste und der Bewegung macht es für das Militär allerdings schwer, letztere unter Kontrolle zu bringen.

Was alle drei Gruppen vereint, ist eine große Opferberei­tschaft. Die Motivation beschreibt Matthew vom CDM mit emotionale­n Worten: "Uns war klar, wenn wir nichts gegen den Putsch unternehme­n, wird unsere Zukunft zerschmett­ert, unser Leben gefährdet und, vielleicht am wichtigste­n, das Land in eine Ära der Dunkelheit gestürzt." Der unabhängig­e Experte Ashley South sagte im Gespräch mit der Deutschen Welle dazu: "Ich denke, eines der Probleme im Moment ist, dass beide Seiten davon überzeugt sind, dass sie gewinnen, und das ist ein Rezept für eine Katastroph­e."

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 ??  ?? Demonstran­ten in Yangon legen sich auf den Boden, als die Polizei zu schießen beginnt.
Demonstran­ten in Yangon legen sich auf den Boden, als die Polizei zu schießen beginnt.

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