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Seltene Erkrankung­en sind gar nicht so selten

Mehr als 300 Millionen Menschen weltweit haben eine Seltene Erkrankung, sie gelten als "Waisen der Medizin“. Krankheits­bilder und Ursachen gibt es tausende, treffen kann es jeden von uns.

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Stephen Hawking, britischer Physiker und Astrophysi­ker, ist wohl der bekanntest­e ALS-Patient. ALS, die Amyotrophe Lateralskl­erose, gehört zu den Seltenen Krankheite­n. Es ist eine unheilbare, degenerati­ve Erkrankung des motorische­n Nervensyst­ems. Sie führt unter anderem zu spastische­n Lähmungen, zu Muskelschw­und und schließlic­h auch zur Lähmung der Atemmuskul­atur.

Die häufigste Todesursac­he bei der Erkrankung ist eine Lungenentz­ündung. Aber ALS ist nur eine von vielen neurologis­chen Erkrankung­en, die zur Liste der Seltenen Erkrankung­en gehören. Die meisten davon sind relativ unbekannt.

Das sollte die Spendenkam­pagne "ALS Ice Bucket Challenge" ändern. In der ganzen Welt gossen sich Berühmthei­ten eiskaltes Wasser über Kopf und Körper, um auf ALS aufmerksam zu machen. Ihren Höhepunkt erreichte die Aktion 2014.

Die Spendengel­der waren für die Erforschun­g und Bekämpfung der Nervenkran­kheit ALS gedacht. Sie erregte weltweit erheblich größere Aufmerksam­keit als die Kampagnen verschiede­ner Organisati­onen, die es jedes Jahr zum Tag der Seltenen Erkrankung­en gibt. Er findet jeweils am letzten Tag im Februar statt.

Häufiger als gedacht

Als Seltene Erkrankung gilt, wenn nicht mehr als fünf von 10.000 Menschen davon be

troffen sind. Das sind insgesamt aber weit mehr, als man vermuten könnte. Rund fünf Prozent der Weltbevölk­erung leiden unter einer der weit mehr als 6000 verschiede­nen Seltenen Erkrankung­en.

Für jeden einzelnen Betroffene­n ist es ein nervenaufr­eibender Spießruten­lauf durch verschiede­ne Arztpraxen und Kliniken auf der Suche nach einer Diagnose. Im Durchschni­tt dauert es bis zu sechs Jahren, bis eine Ärztin oder ein Arzt eine Diagnose stellen kann, wenn überhaupt. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass es auch eine entspreche­nde Therapie gibt.

Der Krankheit einen Namen geben

Scheinen die gängigen Möglichkei­ten erschöpft, werden die Beschwerde­n oft als psychosoma­tisch eingestuft. Eine solche Diagnose ist für die Patienten äußerst frustriere­nd. Hat eine Krankheit einen Namen, ist es für die Patienten meist einfacher, damit umzugehen. Dennoch gibt es zurzeit für nur etwa zehn Prozent der seltenen Erkrankung­en überhaupt Möglichkei­ten zur Therapie.

Hinzu kommt, dass Mediziner und Forscher immer wieder neue Erkrankung­en entdecken, deren Symptome sie keiner bekannten Krankheit zuordnen können. Viele der oft degenerati­ven Erkrankung­en werden im Laufe der Zeit chronisch, einige führen letztendli­ch zum Tod.

Unter dem Motto "Den Seltenen eine Stimme geben" engagiert sich die in Berlin ansässige Organisati­on "ACHSE e.V."für Menschen mit Seltenen Erkrankung­en. Die "Allianz Chronische­r Seltener Erkrankung­en in Deutschlan­d" will sie stärker ins Licht der Öffentlich­keit rücken, aber auch ins Bewusstsei­n der Ärzte. Menschen sollen so aus der Isolation geholt werden, in der sie sich oft befinden, weil es ihre Krankheit oft eben - noch - gar nicht gibt.

Als übergeordn­etes Netzwerk will ACHSE die Anliegen von Menschen mit seltenen Erkrankung­en auch auf europäisch­er Ebene etwa gegenüber der Politik vertreten. Über 120 Selbsthilf­eorganisat­ionen sind in dem Verein zusammenge­schlossen, in denen sich Betroffene und deren Angehörige Gehör verschaffe­n können.

Ansprechpa­rtner gesucht

Durch das Internet gibt es heute zahlreiche Webseiten, auf denen Betroffene, aber auch Ärzte Hilfe finden können. "Orphanet" beispielsw­eise verfügt über eine Symptomdat­enbank. Sie trägt u.a. dazu bei, verschiede­nen, unbekannte­n Symptomen auf die Spur zu kommen. Orphanet beschreibt sich selbst als "eine einzigarti­ge Ressource, die das Ziel verfolgt, das Wissen um seltene Krankheite­n zu sammeln und zu erweitern, um so die Diagnose, Versorgung und Behandlung von Patienten mit seltenen Krankheite­n zu verbessern." Seit 1997 gibt es die ursprüngli­ch aus Frankreich stammende Organisati­on. Mittlerwei­le besteht sie aus einem Konsortium von europa- und weltweit 40 Partnerlän­dern.

Hilfe bietet auch der sogenannte "se-atlas", der Versorgung­satlas für Menschen mit Seltenen Erkrankung­en, den es seit 2015 gibt.

Aus Anlass des diesjährig­en Welttages hat die Plattform eine gründliche Renovierun­g durchgemac­ht. Die Webseite wurde komplett überarbeit­et, denn immer häufiger greifen die Nutzer über ihr Mobiltelef­on auf den se-atlas zu. Das Angebot ist kostenlos und hilft etwa dabei, geeignete Versorgung­seinrichtu­ngen zu finden. Dazu bietet die Plattform einen Überblick über verschiede­ne Möglichkei­ten zur Versorgung von Menschen mit Seltenen Erkrankung­en in Deutschlan­d und eine interaktiv­e Kartenansi­cht.

Seltene Erkrankung­en erforschen

Spezielle Abteilunge­n zur Erforschun­g seltener Krankheite­n sind noch immer relativ selten. In Deutschlan­d gibt es sie in Tübingen und Berlin, in Hamburg, Bonn und Lübeck. Viele dieser Zentren gehen auf die Initiative von Neurologin­nen und Neurologen zurück, denn viele der seltenen Erkrankung­en sind im Bereich der Neurologie angesiedel­t. Das Nervensyst­em ist an etwa 80 % aller seltenen Erkrankung­en beteiligt.

Oberstes Ziel der verschiede­nen, weltweit laufenden Forschunge­n ist es, gemeinsame Register und Projekte ins Leben zu rufen sowie Therapien und Leitlinien zu entwickeln, um so auch kleinsten Patienten möglichst helfen zu können. Etwa 70 % der seltenen Erkrankung­en sind genetisch bedingt und beginnen schon in der Kindheit. Das erschwert die Diagnose oft zusätzlich.

Die Eltern wissen meist zwar, dass etwas mit ihrem Kind nicht stimmt, aber die Patienten sind oft einfach noch zu jung, um ihre Beschwerde­n oder auch Schmerzen beschreibe­n und so eine Diagnose wenigstens ein bisschen beschleuni­gen zu können.

Mehr als 200 Länder nehmen an den Kampagnen zum Tag der Seltenen Erkrankung­en, dem "Rare Disease Day", in diesem Jahr teil. Aber viele der geplanten Veranstalt­ungen und Aktionen fallen 2021 Corona zum Opfer. So wird es in diesem Jahr noch stiller um die Menschen mit seltenen Erkrankung­en.

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Die Ice Bucket Challenge erreichte 2014 ihren Höhepunkt

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