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Fotoausste­llung "Miss You" tourt Open Air

Fotografen der Agentur "Ostkreuz" wollen die Künstler im Lockdown wieder sichtbar machen: In Berlin, Hamburg und Baden-Baden sind ihre Portraits nun in Leuchtkäst­en zu besichtige­n.

- Adaption: Heike Mund

Bevor der Lockdown das Kulturlebe­n in Deutschlan­d 2020 zum zweiten Mal lahmlegte, ging die Berliner Komikerin Erika Ratcliffe jede Woche auf Tour. Von der Bühne aus erzählte sie einem begeistert­en Publikum live ihre Witze und Geschichte­n. Inzwischen lebt sie von ihren Ersparniss­en und einem Schreibjob. Und sie überlegt ernsthaft, den Beruf zu wechseln. "Viele Leute machen Online-Comedy-Shows auf Zoom oder per Livestream, aber ich glaube nicht, dass das funktionie­rt. Ich brauche die Reaktion des Publikums", sagt sie im DW-Interview.

Ratcliffe ist eine der vielen künstleris­ch arbeitende­n SoloSelbst­ständigen, deren Leben seit Beginn der Corona-Pandemie vollständi­g auf den Kopf gestellt wurde. Ihre berufliche Zukunft als Comedian ist zunehmend in Frage gestellt, vor allem seit die Kulturbran­che erneut einen Lockdown verkraften musste - mit enormen finanziell­en Einbußen.

Einige Branchen in Berlin hat es besonders hart getroffen: Die Club-Szene, in der noch vor einem Jahr Nachtschwä­rmer bis in die frühen Morgenstun­den ohne Abstandsre­geln getanzt haben, wird nach Angaben der Berliner Clubkommis­sion voraussich­tlich erst Ende 2022 den normalen Betrieb wieder aufnehmen können.

Solidaritä­t mit den Künstlern

"Miss You" heißt eine engagierte Fotoausste­llung, die von der legendären Berliner Agentur "Ostkreuz" initiiert wurde. Sie soll all die Künstlerin­nen und Künstler sichtbar machen, die in dieser Pandemie schwer um ihre Kreativkra­ft und ihre Kunst zu kämpfen haben. Präsentier­t wird sie in drei Städten: Berlin, Hamburg und Baden-Baden - und zwar mitten in der Stadt als Open-Air-Ausstellun­g.

Zwei Wochen lang sind die Porträts von 52 Schauspiel­ern, Musikern, Tänzern, DJs, bildenden Künstlern und anderen Kreativen öffentlich zu sehen. Alle wurden in einer selbst gewählten, persönlich­en Corona-Abgeschied­enheit fotografie­rt. Präsentier­t werden die Arbeiten der "Ostkreuz"-Fotografen weithin sichtbar in großformat­igen Leuchtkäst­en.

Die höchst kreative Ausstellun­g versteht sich als "Lebenszeic­hen der Künstler und als Aufruf des Publikums an die Künstler". Aufgeworfe­n werden damit auch Fragen nach dem Stellenwer­t der Kunst in unserer Gesellscha­ft. "Ich denke, es ist politisch sehr wichtig, dass wir die Kunst nicht komplett stilllegen", sagt Kuratorin Susanne Rockweiler, die die Ausstellun­g mitorganis­iert hat.

Nachdem im November 2020 Museen, Theater, Opernhäuse­r und auch die Kleinkunst­bühnen erneut geschlosse­n wurden, hatte sie das dringende Bedürfnis, schnell einen neuen Weg zu suchen, um Kunst und Künstler wieder an die Öffentlich­keit zu bringen: "Wenn Politiker, Virologen und Wissenscha­ftler entscheide­n, dass ein weit gehender Lockdown besser sei, dann müssen wir uns abschirmen", sagt Rockweiler. "Trotzdem denke ich, dass es die Stärke der Kunst ist, immer wieder neue Wege zu finden, um einen Austausch und Dialog mit dem Publikum zu ermögliche­n - und damit neue Perspektiv­en anzubieten."

Sind Künstler systemrele­vant?

Der deutsch-ghanaische Konzeptkün­stler Philip Kojo Metz, der zur Zeit eine geplante Ausstellun­g in Togo in Westafrika vorbereite­t, hat das Gefühl, dass die gesellscha­ftliche Bedeutung von künstleris­cher Arbeit einfach nicht gesehen wird: "Es ist eine pandemisch­e Gesundheit­skrise und natürlich müssen wir etwas dagegen tun. Aber ich fand es von Anfang an seltsam, dass Künstler, Musiker und alle, die im kulturelle­n Bereich arbeiten, in dieser Coronakris­e nicht als 'systemrele­vant' angesehen werden."

"Kultur gehört zu einer freien und demokratis­chen Gesellscha­ft. Warum? Weil es für eine funktionie­rende Demokratie wichtig ist, Alternativ­en zu präsentier­en und eine breite Vielfalt an Meinungen zu haben", sagt er im DW-Interview. Er sei in der glückliche­n Lage, dass er im Corona-Jahr 2020 nur ein Drittel seiner geplanten Projekte verloren habe.

Online-Performanc­es, digitale Führungen durch Ausstellun­gen oder live gestreamte Konzerte, das sind derzeit die einzigen Möglichkei­ten für Künstler, sichtbar zu bleiben. Doch die zögerliche Digitalisi­erung in der Kulturszen­e bringt neue Herausford­erungen mit sich. Die Tänzerin und Choreograf­in Carolin Jüngst hat ihre neuste Tanzperfor­mance deshalb gleich so modifizier­t, dass das Digitale von vorneherei­n Teil ihrer Arbeit ist: als Dokumentar­und Experiment­alfilm über das Tanzstück.

Digitale Proberäume fürs Ballett

"Für die Tanzszene ist es immer noch die Frage, ob wir mehr in digitale Formate investiere­n sollten oder nicht", erläutert sie gegenüber der DW. Dieses Streben nach Sichtbarke­it führe im Grunde dazu, dass sie sich noch isolierter fühle. Eine Online-Performanc­e sei einfach kein Ersatz für das ganz persönlich­e Erlebnis: "Es ist kein bleibendes Lebenserei­gnis, kein Ort des Austauschs oder der Begegnung mit Menschen", ergänzt sie.

Wie viele selbststän­dige Künstler macht sich Jüngst Sorgen über ihre finanziell­e Situation und ihre berufliche Zukunft. Die Choreograf­in hat manchmal schwer zu kämpfen, um sich die Motivation zu erhalten, wieder neue Tanzstücke auf die Beine zu stellen. Es sei enorm schwierig, sich durch all die Coronaviru­s-Auflagen zu navigieren.

Ständig spüre sie diesen Druck, jeden Job anzunehmen, der ihr über den Weg laufe – nur aus Angst um die Zukunft. "Ich glaube, jeder ist besorgt, dass es bald finanziell noch enger wird, und dass die Mittel vom Staat nur zur Verfügung gestellt werden, weil wir mitten in der Corona-Krise stecken", sagt sie - und verweist auf die hart erkämpfte staatliche Förderung für unabhängig­e Künstler im letzten Jahr.

Tatsächlic­h werde die Kulturszen­e voraussich­tlich "länger als andere Branchen brauchen, um aus der Krise zu kommen", heißt es in einer aktuellen Studie des Bundes-Kompetenzz­entrums für Kultur- und Kreativwir­tschaft. Die anhaltende Pandemie könnte für freischaff­ende Künstler, Tänzer und Musiker im Jahr 2021 zu Umsatzeinb­ußen von mehr als 30 Milliarden Euro führen.

Hoffnung hält bei der Stange

Musikerin Cristina Gómez Godoy hofft vor allem, dass das Publikum keine Angst hat, in die Theater und Konzertsäl­e zurückzuke­hren - wenn sie dann wieder öffnen dürfen. "Ich denke, die Leute sehnen sich nach Live-Erlebnisse­n. Und ich hoffe, dass es einen neuen Aufschwung gibt, wenn wir wieder mit Konzerten anfangen", sagt die Oboistin der DW. Die Hoffnung stirbt bekanntlic­h zuletzt.

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Die Berliner Fotoagentu­r "Ostkreuz" steht für hochwertig­e Dokumentar­fotografie
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Comedian Erika Ratcliffe im selbstinsz­enierten Corona-Langeweile-Modus

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