Deutsche Welle (German edition)
Widerstand in Myanmar ruht auf mehreren Säulen
Die treibenden Kräfte hinter den Protesten in Myanmar sind vielfältig, aber geeint im Widerstand gegen das Militär. Die Konfrontation wird immer härter.
Die Sicherheitskräfte in Myanmar gehen mit immer größerer Härte gegen die Demonstranten vor. Am Mittwoch wurden nach UN-Angaben 38 Menschen bei Zusammenstößen mit Sicherheitskräften getötet. Am vergangenen Sonntag, der inzwischen in den sozialen Medien auch "Myanmar's Bloody Sunday" genannt wird, starben mindestens 18 Menschen durch Schüsse der Sicherheitskräfte. Mit "Bloody Sunday" wird eigentlich ein Sonntag im Jahr 1972 bezeichnet, als in der nordirischen Stadt Derry bei Bürgerrechtsdemonstrationen insgesamt 14 Demonstranten durch britische Soldaten getötet wurden. Der "Bloody Sunday" war ein wesentlicher Auslöser für die weitere Eskalation des Nordirlandkonflikts.
Hass auf Armee wächst
Auch in Myanmar haben die Ereignisse vom vergangenen Sonntag eine Verhärtung der Fronten zur Folge. Anfang der Woche gingen die Proteste weiter: Weniger als große Kundgebungen an zentralen Orten, sondern als kleinere Aktionen in Stadtvierteln, wo sich die Menschen verbarrikadieren. Esther Ze Naw, die bisher als Aktivisten unter anderem im Kachin Peace Network aktiv war, teilte auf Facebook eine Anleitung zum Bau von Molotowcocktails und schrieb dazu: "Jetzt begreift ihr endlich, warum diese Hundesöhne das verdienen." Der Journalist Cape Diamond, der die Proteste auf den Straßen seit Tagen begleitet und mit mehreren Dutzend Demonstranten gesprochen hat, berichtet auf Twitter, dass alle Interviews mit den gleichen Worten schließen: "Wir werden bis zum Ende kämpfen. Die Revolution muss siegen."
Von kleinen zu großen Netzwerken
Der Widerstand wird von mehreren Akteuren unterstützt beziehungsweise organisiert. Es gibt erstens die Straßenproteste, getragen vor allem von jungen Demonstranten und der sogenannten "Generation Z." Sie erzeugen die größte Sichtbarkeit mit ihrem oft kreativen Protest.
Zweitens formierte sich die "Bewegung zivilen Ungehorsams" (Civil Disobedience Movement, CDM). Wenige Tage nach dem Putsch weigerten sich zuerst Ärzte und Krankenschwestern, unter der Militärregierung zu arbeiten. Schnell schlossen sich weitere Sektoren an, auch aus der Privatwirtschaft. Lastwagen und Züge stehen seither weitgehend still, die Banken sind geschlossen, der Geldfluss ist praktisch zum Erliegen gekommen.
Der zivile Ungehorsam werde nicht zentral organisiert, sondern sei Ausdruck einer spontanen Bewegung von unten, wie einer ihrer Sprecher, der sich Matthew nennt und als Mediziner bei einer internationalen NGO tätig ist, gegenüber der DW über den Messengerdienst Signal erläutert hat. Die ursprünglich spontanen Aktionen von Mitarbeitern in Krankenhäusern, Behörden und Banken sind inzwischen in die Bildung sogenannter Fokusgruppen gemündet, die den zivilen Ungehorsam intern für ihre Einrichtung oder Institution organisieren.
Zwischen den Fokusgruppen gibt es sogenannte Sektorennetzwerke, über die mehrere Krankenhäuser oder Banken ihren Protest koordinieren. Die Sektorennetzwerke wiederum werden von Unterstützungsteams auf der Ebene der Gemeinden und der Bundesstaaten unterstützt. Dabei wird nicht von oben vorgegeben, welche Strategie die einzelnen Fokusgruppen verfolgen sollen, sondern jede Gruppe agiert eigenständig, bittet aber zuweilen um Hilfe oder bietet diese an.
In den Reihen der Bewegung schätzt man, dass sich etwa 700.000 der insgesamt rund eine Million Staatsbediensteten des Landes der Bewegung angeschlossen haben.
Ausschuss von Abgeordneten gegen das Militär
Die Bewegung unterstützt auch den dritten wichtigen Akteur im Widerstand gegen das Militär, das "Committee Representing Pyidaungsu Hluttaw" (CRPH). Auf Deutsch: Der Ausschuss, der die beiden Kammern des Parlaments repräsentiert. Er hat 17 Mitglieder, davon zwei Vertreter ethnischer
Minderheiten. Er wurde nach dem Putsch von schätzungsweise etwas mehr als der Hälfte der 664 Abgeordneten in einer informellen Abstimmung über soziale Netzwerke "gewählt." Unterstützt wird der Ausschuss vor allem von Mitgliedern der NLD. Die Abgeordneten wurden bei den Wahlen im November 2020 gewählt und hätten eigentlich am 1. Februar vereidigt werden müssen, wenn das Militär nicht geputscht hätte.
Unmittelbar nach dem "Bloody Sunday" erklärte der Ausschuss den "State Administration Council" (SAC), also die von den Militärs übernommene Regierung, zu einer "terroristischen Organisation." Der SAC und alle in Gewalttaten verstrick te S iche rhe i tsk räf te müssten zur Rechenschaft gezogen werden, wie etwa Dr. Sasa, ein Sprecher des Ausschusses, immer wieder auf Facebook und in Interviews betont hat.
Inzwischen hat der Ausschuss sogar Interimsminister ernannt.
Es agiere damit als eine Art "Gegenregierung", so Axel Harneit-Sievers von der HeinrichBöll-Stiftung in Yangon in einer Analyse des Putsches. Internationale Aufmerksamkeit erregte die Rede des UN-Botschafters Kyaw Moe Tun am vergangenen Freitag, der dazu aufrief, den Ausschuss zu unterstützen und alles zu tun, um den Putsch scheitern zu lassen. Kyaw Moe Tun wurde am Dienstag von der Militärregierung als UN-Botschafter abberufen, wie jene in einem Brief an die UN mitteilte. Der Botschafter sieht sich aber weiter als rechtmäßiger Vertreter seines Landes bei den UN.
Rezept für eine Katastrophe? Alle drei Säulen des Protests tragen in unterschiedlicher Weise zum Protest bei. Die Straßenproteste sind sichtbar und produzieren die Bilder, die um die Welt gehen. Die Bewegung (CDM) ist weniger sichtbar, erzeugt aber nach übereinstimmender Einschätzung von
Experten den größten Druck auf die Militärregierung, da sie Verwaltung und Wirtschaft des Landes zusammenbrechen lassen und das Land damit unregierbar machen kann. Der inoffizielle Parlamentsausschuss wiederum versucht, sich national und international als legitimer Vertreter des Volkes aufzustellen.
Gegen die Straßenproteste setzte das Militär wie am vergangenen Sonntag vor allem auf gewaltsame Niederschlagung. Gegen Bewegung und
Ausschuss geht das Militär mit nächtlichen Razzien und Verhaftungen von Schlüsselpersonen vor. Die dezentrale Organisation und das Fehlen von Anführern der Proteste und der Bewegung macht es für das Militär allerdings schwer, letztere unter Kontrolle zu bringen.
Was alle drei Gruppen vereint, ist eine große Opferbereitschaft. Die Motivation beschreibt Matthew vom CDM mit emotionalen Worten: "Uns war klar, wenn wir nichts gegen den Putsch unternehmen, wird unsere Zukunft zerschmettert, unser Leben gefährdet und, vielleicht am wichtigsten, das Land in eine Ära der Dunkelheit gestürzt." Der unabhängige Experte Ashley South sagte im Gespräch mit der Deutschen Welle dazu: "Ich denke, eines der Probleme im Moment ist, dass beide Seiten davon überzeugt sind, dass sie gewinnen, und das ist ein Rezept für eine Katastrophe."
er wird die EU noch mehr als Sündenbock darstellen.
Ist das der Auftakt zum Hungexit?
Nein, ich glaube nicht, dass es einen Hungexit geben wird. Orbán weiß, dass die EU Ungarn und die ungarische Wirtschaft stabilisiert. Da geht es um den für Ungarn wichtigen Freihandel oder um die milliardenschweren Finanzhilfen für Ungarn. Es ist ja auch bekannt, dass gerade Mitglieder aus Orbáns Familie und Geschäftsleute aus seinem Umfeld sehr stark von EU-Geldern profitieren. Ein EU-Austritt liegt deshalb nicht in Orbáns Interesse. Dennoch wird Orbán versuchen, die ungarische Öffentlichkeit noch weiter gegen die EU aufzuwiegeln.
Bisher hat das nicht unbedingt funktioniert. Zwar folgen die meisten Ungarn Orbán in seiner Flüchtlingspolitik - aber nicht im Europa-Bashing. In den vergangenen Monaten hat Orbán durch seine europafeindliche Rethorik in Wahlumfragen sogar verloren...
Ja, die ungarische Öffentlichkeit ist ungleich europafreundlicher als zum Beispiel die britische. Man kann sogar sagen, dass sie massiv und stabil europafreundlich ist. Es ist Orbán nach einem Jahrzehnt Herrschaft nicht gelungen, das grundsätzlich zu ändern. Ich glaube daher nicht, dass die ungarische Gesellschaft einen Hungexit mittragen würde.
Der seit Jahren andauernde Streit zwischen Fidesz und der Mehrheit der EVP-Parteien symbolisierte im Kleinen die Unfähigkeit der EU, Orbáns antidemokratischer Umgestaltung in Ungarn wirksam etwas entgegenzusetzen. Ist nun ein Wendepunkt erreicht?
Die Entscheidung der EVP gegen Fidesz ist ein außergewöhnlicher Wendepunkt und ein großer Einschnitt. Bisher war Fidesz der böse Bube, der mit den guten Jungs am Tisch sitzt, jetzt ist Fidesz bloß noch der böse Bube. Am wichtigsten erscheint mir dabei, dass die deutschen Christdemokraten und Christsozialen, die ja lange schützend vor Fidesz standen, einen schrittweisen Prozess der Ernüchterung durchgemacht haben.
Wird die EVP-Entscheidung auch dazu führen, dass die EU ab jetzt konsequenter gegen Demokratieabbau vorgeht und den neuen Rechtsstaatsmechanismus strenger anwendet?
Das ist schwer zu sagen. In den Verfahren nach dem neuen Rechtsstaatsmechanismus haben ja die einzelnen Mitgliedsstaaten noch ein erhebliches Mitsprache- und Entscheidungsrecht. Da muss man die Praxis abwarten.
Fidesz und die CDU/CSU hatten ja immer ein besonderes Verhältnis, auch spielt die deutsche Wirtschaft in Ungarn eine herausragende Rolle. Wie wird sich der Bruch zwischen Fidesz und der EVP auf das deutsch-ungarische Verhältnis auswirken?
Salopp gesagt, haben Orbán und Fidesz gedacht, dass, wenn sie nur genügend Panzer und andere Waffen in Deutschland kaufen und ausgezeichnete Beziehungen zu den deutschen Autokonzernen und anderen Großunternehmen pflegen, auch die politischen Beziehungen gut sind. Die jetzige Entscheidung der EVP zeigt die Grenzen dieser Politik. Es ist eben nicht so, dass die Wirtschaftsbeziehungen immer alles in der Politik mitbestimmen. Und es ist in jedem Fall auch ein Einschnitt für die Identität von Fidesz, wenn die Partei künftig nicht mehr der formale Verbündete der herrschenden politischen Kraft in Deutschland und Europa sein wird.
Péter Krekó, Jahrgang 1980, ist politischer Analyst und seit 2011 Direktor des Budapester Fors ch u n g s- u n d Po litik b e ra - tungsinstitutes "Political Capital". Er studierte Sozialpsychologie und promovierte 2014 über die Sozialpsychologie von Verschwörungstheorien. Seine Forschungsschwerpunkte sind Desinformationspolitik, der russische politische Ein uss in Westeuropa sowie der europäische Populismus und Radikalismus. Derzeit arbeitet er als Gastforscher am Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM).