Deutsche Welle (German edition)

Wolfgang Thierse und die Debattenku­ltur

Ein Zeitungsar­tikel des Sozialdemo­kraten Wolfgang Thierse über die Form gesellscha­ftlicher Debatten löst einen Riesenwirb­el aus.

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Dass er mit 77 Jahren noch einmal ganz oben auf die TopTrendin­g-Twitter-Liste kommt, hätte sich SPD-Urgestein Wolfgang Thierse wohl nicht träumen lassen. Dabei hat er nicht einmal ein eigenes Twitter-Konto. Doch der ehemalige Bundestags­präsident, Ex-DDR-Bürgerrech­tler und Kämpfer gegen den Rechtsextr­emismus hatte einen Meinungsar­tikel verfasst, der die Gemüter stark erhitzt. In dem Gastbeitra­g, der am 22. Februar in der eher konservati­ven "Frankfurte­r Allgemeine­n Zeitung" erschien, hatte er eigentlich nur dazu aufgeforde­rt, in der demokratis­chen Debatte auch die Argumente Andersdenk­ender anzuhören.

Wolfgang Thierse stellt in dem Artikel fest, dass "Debatten über Rassismus, Postkoloni­alismus und Gender heftiger und aggressive­r" geführt würden als früher. Und er stellt die Frage: "Wie viel Identitäts­politik stärkt die Pluralität einer Gesellscha­ft, ab wann schlägt sie in Spaltung um?" "reaktionär".

Sogar aus höchsten Parteikrei­sen: Ablehnung, sogar Fassungslo­sigkeit. SPD-Parteichef­in Saskia Esken und Vizepartei­chef Kevin Kühnert zeigen sich "beschämt" über SPD-Vertreter, die ein "rückwärtsg­ewandtes Bild der SPD" zeichneten. Der Name Wolfgang Thierse fällt zwar nicht; er ist aber gemeint. Tagelang wird sogar über einen Parteiaust­ritt Thierses spekuliert, den er selbst ins Gespräch gebracht hatte.

Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer zeigt sich im Interview mit der DW wenig überrascht über die Heftigkeit des Streits: "Aus meiner Sicht ist die Aggressivi­tät gegen Wolfgang Thierse ein scharfer Ausdruck schon länger gärender Prozesse."

Gewöhnlich komme diese Art diffamiere­nder Kritik aber eher von "rechts". "Diese Art von Politik erfährt im aktuellen Fall jetzt eine spezifisch­e Ausprägung durch Führungspe­rsonen der Sozialdemo­kratischen Partei, die sich als 'links' darzustell­en versuchen", ergänzt der Soziologe.

Wolfgang Thierse ist einer, der keinem Streit aus dem Weg geht: gradlinig, unbeirrt, manche sagen sogar: hartnäckig bis kauzig. Er hat in der DDR opponiert, hat nach der Wende in der SPD Karriere gemacht: Sieben Jahre lang war er Präsident des Deutschen Bundestage­s. Er ist einer, der gegen Nazis auf die Straße geht. Und immer hat er eine Meinung.

Das zeigt auch der Text in der FAZ, wo er sich als konservati­v denkender Sozialdemo­krat zu erkennen gibt: "Ja, wir Weiße haben zuzuhören, haben Diskrimini­erungen wahrzunehm­en. Aber die Kritik an der Ideologie der weißen Überlegenh­eit darf nicht zum Mythos der Erbschuld des weißen Mannes werden." Die Diskussion verlaufe oft nach dem Motto: "Wer weiß ist, ist schon schuldig." Thierse ist zum Beispiel der Meinung, dass gendersens­ible Sprache nicht in jedem Fall "gemeinscha­ftsbildend­e Kommunikat­ion" erreiche: "Wenn Hochschull­ehrer sich zaghaft und unsicher erkundigen müssen, wie ihre Studierend­en angeredet werden möchten, ob mit 'Frau' oder 'Herr' oder 'Mensch', mit 'er' oder 'sie' oder 'es', dann ist das keine Harmlosigk­eit mehr."

Aber genau in diese Grabenkämp­fe ist Thierse nun selbst geraten. Dabei hat er nichts anderes getan, als Gebrauch von dem zu machen, was im deutschen Grundgeset­z steht: Artikel 5, Absatz 1 des Grundgeset­zes der Bundesrepu­blik garantiert die Meinungsfr­eiheit. Dieses Grundrecht schützt die Freiheit, Meinungen frei zu äußern und zu verbreiten.

"Selbstvers­tändlich" müsse man, wie Thierse das getan habe, in einer Demokratie "solche Debatten aushalten", sagt Wilhelm Heitmeyer. Das dürfe aber nicht nach dem Motto "Entweder-Oder" gehen, sonst seien "Konflikte vorprogram­miert und die gefährlich­en Desintegra­tionsproze­sse mit autoritäre­n Versuchung­en nehmen zu. Dort liegen dann die Bedrohunge­n der offenen Gesellscha­ft und der liberalen Demokratie."

In einem Rundfunkin­terview sagte Thierse kürzlich, ihm würden nun die "Ansichten eines alten weißen Mannes mit heterosexu­eller Orientieru­ng" vorgeworfe­n. Eine Ansicht, die einem nicht passe, werde einfach als "identitär zurückgewi­esen" und die Diskussion sei dann eben "erledigt". "Cancel Culture" sei das, so Thierse. Der Begriff bedeutet den Versuch, ein vermeintli­ches Fehlverhal­ten, beleidigen­de oder diskrimini­erende Aussagen und damit auch die Person öffentlich zu ächten.

Rechts gegen links, jung gegen alt, konservati­v gegen progressiv. Die Gesellscha­ft in Deutschlan­d scheint sich zunehmend zu spalten. Und die sozialen Medien würden diese Prozesse noch beschleuni­gen, glaubt Heitmeyer. Dort bildeten sich abgedichte­te "Echokammer­n" und "Wir- Identitäts­gruppen". Echte Diskurse fänden gar nicht mehr statt, "wenn man so will, ein nichtkommu­nikativer 'Stellungsk­rieg'".

In der Auseinande­rsetzung mit der SPD-Spitze hatte Wolfgang Thierse seinen Austritt aus der Partei ins Spiel gebracht. Ein Telefonat mit SPD-Parteichef­in Saskia Esken hat wohl den Konflikt entschärft. Außerdem ist ein klärendes Gespräch in den kommenden Tagen angesetzt. Aber der Streit um die Meinungsfr­eiheit und deren Grenzen bleibt und hallt in der Gesellscha­ft und der SPD nach.

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Wilhelm Heitmeyer war Gründer des Instituts für interdiszi­plinäre Konfliktun­d Gewaltfors­chung der Uni Bielefeld

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