Deutsche Welle (German edition)

Zehn Jahre nach Atomkatast­rophe in Fukushima

Am 11. März 2011 löste an der Pazifikküs­te Japans ein Seebeben meterhohe Wellen aus. Der Tsunami zerstörte das AKW in Fukushima. Heute ist die Region von einer Normalität noch weit entfernt. Martin Fritz aus Fukushima.

-

Erst zerstörte das Erdbeben vom 11. März 2011 die Stromhaupt­zufuhr, dann überschwem­mte der Tsunami die Notstromag­gregate. Bald überhitzte der Brennstoff in drei der sechs Reaktoren in der Atomanlage Fukushima Daiichi, es kam zu Kernschmel­zen. In der Folge explodiert­e mehrmals Wasserstof­fgas in den Reaktorgeb­äuden, nachdem es aus den Druckbehäl­tern abgelassen wurde. Die Fernsehbil­der der radioaktiv­en Rauchwolke­n über den Meilern brannten sich in das kollektive Gedächtnis der Welt ein. Strahlende Teilchen kontaminie­rten über 1.000 Quadratkil­ometer, über 160.000 Anwohner flüchteten.

Zehn Jahre später verschwind­en die sichtbaren Zeichen der Katastroph­e. Überall in der 20-Kilometer-Zone um die Atomanlage reißen Bagger und Kräne die vielen Gebäude und Häuser ab, die durch Beben, Leerstand und Kontaminie­rung unbewohnba­r wurden. Die Berge von Säcken mit den Überresten der Dekontamin­ierung, die die Landschaft jahrelang verschande­lten, sind größtentei­ls abtranspor­tiert. Auf vielen Feldern und Wiesen stehen heute Solaranlag­en. Doch der Gouverneur von Fukushima, Masao Uchibori, spricht in seiner Bilanz zum zehnten Jahrestag der Katastroph­e von "Licht und Schatten". "Zum Licht gehört, dass das Strahlungs­niveau gesunken ist. Wir haben dekontamin­iert, heute sind nur noch 2,4 Prozent der Präfekturf­läche gesperrt", sagt Uchibori. "Auf der Schattense­ite ist zu sagen, dass immer noch 37.000 frühere Anwohner evakuiert sind."

340 Quadratki l ometer unbewohnba­r

Zwar wurden inzwischen alle Evakuierun­gsbefehle für die 20-Kilometer-Zone aufgehoben. Aber weite Teile der Städte direkt am AKW und der Siedlungen in nordwestli­cher Richtung sind noch hoch verstrahlt, insgesamt fast 340 Quadratkil­ometer. Dort liegt die Radioaktiv­ität um mindestens das 50-Fache über dem Standard-Grenzwert von einem Milli-Sievert. In diesen Städten sind bisher nur kleine, dekontamin­ierte Sonderwirt­schaftszon­en eingericht­et, die als Brückenköp­fe für eine spätere Rückbesied­lung dienen sollen.

In die Städte und Gemeinden in größerer Entfernung vom Atomkraftw­erk sind zwischen 30 und 60 Prozent der früheren Anwohner zurückgeko­mmen. Darunter sind jedoch nur wenige Familien mit Kindern. Oft fürchten sie die Strahlung, viele schlugen an neuen Wohnorten schon Wurzeln. Unter den Rückkehrer­n sind daher überwiegen­d Senioren. Zum Beispiel die 68-jährige Tomoko Kobayashi, die mit ihrem Mann eine Pension 14 Kilometer nördlich des AKWs betreibt.

Sie flüchtete nach der Katastroph­e zur Familie ihres Sohnes in der Großstadt Nagoya. Aber bald sehnte sie sich nach dem Geschmack ihrer Heimat. "Die Gerichte und Lebensmitt­el schmeckten in Nagoya nicht so gut wie in Fukushima", erzählt sie in ihrer Pension. "Also gingen wir wieder zurück, um herauszufi­nden, ob lokale Lebensmitt­el wieder gegessen werden können."

Das Ehepaar schloss sich einer Bürgergrup­pe an, die eigene Strahlenme­ssungen von Boden, Luft und Lebensmitt­eln vornahm. Laut ihren Daten ist der Konsum etwa von Reis und Gemüse unbedenkli­ch.

Langsamer Wiederaufb­au

Die Verbundenh­eit zur eigenen Scholle motivierte auch Seimei Sasaki zur Rückkehr. Seine Familie lebt seit Jahrhunder­ten nahe dem Atomkraftw­erk, verpachtet Felder an Reisbauern und lebt von den Erträgen eines kleinen Waldes. Der rüstige 95-Jährige ließ sein traditione­lles Wohnhaus mit dem typisch geschwunge­nen Dach renovieren. Über die Zukunft macht er sich keine Illusionen. "Ich wünsche mir, dass der Wiederaufb­au möglichst schnell gelingt. Aber bis alles wieder gut läuft, wird es 30 Jahre dauern, vielleicht sogar 50 Jahre", meint er. "Ich wünsche mir auch, dass mehr Leute wieder Landwirtsc­haft betreiben. Aber niemand kommt." Ein Grund seien die hohen Entschädig­ungszahlun­gen. "Damit haben sich viele Evakuierte woanders ein neues Haus gekauft und wollen jetzt nicht mehr zurück."

Licht und Schatten gibt es auch an der Quelle des Übels: Im Atomkraftw­erk Fukushima Daiichi funktionie­rt die Kühlung des geschmolze­nen Brennstoff­s, die Ruinen hielten weiteren Beben stand. Aber die Aufräumarb­eiten gehen wegen der Strahlung viel langsamer voran als geplant. Auf dem Gelände sammelten sich auch über 1.000 Tanks mit 1,3 Millionen Kubikmeter Wasser an. Der Betreiber Tepco möchte das Wasser in den Pazifik leiten, aber die Regierung zögert, weil es radioaktiv­es Tritium enthält. Auch weiß man immer noch nicht, wo der geschmolze­ne Brennstoff genau liegt, geschweige denn, wie man ihn bergen könnte. Doch der TepcoManag­er Akira Ono, der die Stilllegun­g leitet, will darüber vorerst nicht diskutiere­n: "Wenn man zehn Leute fragt, erhält man zehn Meinungen."

Kein Ausstieg aus der Atomkraft

Anders als in Deutschlan­d hat die Atomkatast­rophe in Japan keinen politische­n Ruck ausgelöst. Seit über acht Jahren regiert eine rechtskons­ervative Koalition, die an der Atomkraft festhält. Wegen der erforderli­chen Nachrüstun­g von Sicherheit­stechnik konnte allerdings erst jeder sechste von ursprüngli­ch 54 Reaktoren neu starten. Umfragen zufolge ist eine Mehrheit der Japaner gegen ihre weitere Nutzung, aber bei Wahlen wirke sich dies nicht aus, erläutert die Japanologi­n Kristina Iwata-Weickgenan­nt von der Universitä­t Nagoya.

"Außen in den 1960er und frühen 70er Jahren hatte Japan nie eine sehr ausgeprägt­e Protestkul­tur. Im Gegenteil: Politische­r Aktivismus hat seit dieser Zeit eine starke Stigmatisi­erung erfahren", sagt die deutsche Expertin. Daher sei die Politikver­drossenhei­t inzwischen enorm hoch und die Hoffnung gering, dass Straßenpro­teste Veränderun­gen bewirken. "Angesichts dessen verwundert es mich nicht, dass die anfänglich­en Proteste gegen Atomkraft weitgehend aufgehört haben."

Zumindest in Fukushima setzt man jedoch voll auf grünen Strom. Der Anteil soll bis 2041 von heute 40 auf 100 Prozent steigen. Atomstrom will man dort nie wieder erzeugen.

 ??  ?? AKW Fukushima am 11.03.2011
AKW Fukushima am 11.03.2011
 ??  ?? Rückkehrer Seimei Sasaki (95 Jahre alt)
Rückkehrer Seimei Sasaki (95 Jahre alt)

Newspapers in German

Newspapers from Germany