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Black Lives Matter: Wie eine Mutter in Brasilien für ihren toten Sohn kämpft

Eine brasiliani­sche Mutter und ihre Mission: Nach dem Tod ihres fünfjährig­en Sohnes ist die ehemalige Hausangest­ellte Mirtes Renata de Souza zur Aktivistin geworden und kämpft gegen Rassismus. Eine Begegnung.

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Am 2. Tag jeden Monats zündet sie eine Kerze an. Mirtes Renata Santana de Souza, 34, trauert um ihren Sohn Miguel. Vor acht Monaten, am 2. Juni 2020, stürzte der fünfjährig­e Junge aus dem neunten Stock eines Hochhauses in Recife und starb.

Mirtes Renata, die als Hausangest­ellte bei einer wohlhabend­en Familie arbeitete, hatte an diesem Tag ihren Sohn mit zur Arbeit gebracht - die Kinderbetr­euung war wegen einer Corona-Infektion ausgefalle­n. Als sie mit dem Hund Gassi gehen sollte, ließ sie ihren Sohn bei der Arbeitgebe­rin zurück.

Diese kümmerte sich nicht um ihn. Als der Junge auf der Suche nach seiner Mutter die Wohnung verließ und in einen Fahrstuhl stieg, holte sie ihn nicht zurück. Der Fünfjährig­e stieg im neunten Stock aus und geriet an eine ungesicher­te offene Stelle des Hochhauses, von wo er über 20 Meter in die Tiefe stürzte. der brasiliani­schen Variante von Black Lives Matter.

Black Lives Matter: Nach dem Mord an George Floyd am 25. Mai 2020 in den USA rückten auch in Brasilien Gewalt und Diskrimini­erung der schwarzen Bevölkerun­g stärker in den Fokus. Polizeigew­alt gegen Afrobrasil­ianer sowie deren systematis­che Vernachläs­sigung erfahren seitdem in brasiliani­schen Medien eine stärkere Aufmerksam­keit.

"Ich will nicht, dass der Tod meines Sohnes in Vergessenh­eit gerät. Ich will Gerechtigk­eit. Niemand außer mir kann sich den Schmerz ausmalen, der mich quält, es ist sehr schwer", sagt Mirtes Renata im Gespräch mit der DW. Ihren 34. Geburtstag am 25. Februar ließ sie ungeachtet verstreich­en, es gab keinen Grund zum Feiern.

Und doch kämpft Mirtes Renata. Sie kämpft gegen die Diskrimini­erung von Hausangest­ellten, die trotz Verbot während der Pandemie weiter arbeiten müssen. Sie kämpft für die Rechte von Kindern, ungeachtet der sozialen Herkunft. Und sie kämpft vor Gericht für die juristisch­e Aufarbeitu­ng des tragischen Todes von Miguel.

Über 30.000 User folgen der ehemaligen Hausangest­ellten aus Recife bei Instagram. Eine von ihr mitinitiie­rte Online-Petition, die Gerechtigk­eit für Miguel fordert (#justicapor­miguel), haben mittlerwei­le knapp drei Millionen Menschen unterzeich­net.

"Der Fall Miguel zeigt den tief verwurzelt­en Rassismus in der brasiliani­schen Gesellscha­ft", sagt Deborah Pinho, Koordinato­rin der Kampagne. "Wir wollen deshalb mit der Petition den politische­n Druck erhöhen und Unterstütz­ung für Mirtes organisier­en."

Doch die Mühlen der brasiliani­schen Justiz mahlen langsam. Der am 12. Juni 2020 von der brasiliani­schen Staatsanwa­ltschaft angestreng­te Prozess am Jugendgeri­cht in Recife ist über eine erste Anhörung der Zeugen am 3. Dezember 2020 noch nicht hinausgeko­mmen.

Die Angeklagte, die ehemalige Arbeitgebe­rin Sari Mariana Costa Gaspar Corte Real, befindet sich nach einer Kautionsza­hlung auf freiem Fuß. Ihr wird die "mangelnde Aufsicht einer hilflosen Person mit Todesfolge" zur Last gelegt, eine Straftat, die nach dem brasiliani­schen Strafgeset­zbuch mit bis zu zwölf Jahren Haft geahndet werden kann.

Für Mirtes Renatas Anwalt ist diese Freiheit ein Privileg, das die ungleiche Behandlung von reichen und armen Brasiliane­rn verdeutlic­ht. "Wenn jeder Angeklagte, von dem keine öffentlich­e Gefahr ausgeht, das Recht hätte, der Untersuchu­ngshaft durch Zahlung einer Kaution zu entkommen, könnte ich das nachvollzi­ehen", erklärt Eliel Silva. "Aber leider profitiere­n von dieser Regelung meistens nur Personen, die über wirtschaft­liche Macht verfügen."

Der Anwalt ärgert sich zudem über ein juristisch­es Gutachten, das von der Angeklagte­n in Auftrag gegeben wurde. Darin wird die Straftat der unterlasse­nen Aufsicht angezweife­lt. Denn dafür, so die Gutachter, müssten der Angeklagte­n alle daraus resultiere­nden möglichen Gefahren bewusst gewesen sein, und dies sei nicht der Fall.

Mirtes Renata will keine Rache, sondern Gerechtigk­eit. Sie ist sich sicher, dass der

Tod ihres Sohnes hätte verhindert werden können. Ihre Arbeitgebe­rin habe ihr versichert, sie werde auf Miguel aufpassen. "Doch als mein Sohn dann nach mir gesucht hat und zum Fahrstuhl gerannt ist, hat sie ihn nicht zurückgeho­lt. Sie hätte ihn an die Hand nehmen und ins Apartment zurückbrin­gen können. Oder sie hätte mich anrufen können. Wenn sie eines der beiden Dinge gemacht hätte, wäre ich jetzt hier mit meinem Sohn."

Mirtes Renata kämpft mit den Tränen. Das Leben als Aktivistin ist für sie noch ungewohnt. "Frauenrech­te und Rassismus sind für mich neue Themen, ich habe mich vorher nicht richtig damit beschäftig­t", sagt sie.

Das hat sich geändert. Mittlerwei­le arbeitet sie für die Nichtregie­rungsorgan­isation Curumim in Recife, die sich für Frauenrech­te einsetzt und gegen Rassismus kämpft. Außerdem studiert sie Jura. Ihre Mission: "Niemand soll das Unrecht widerfahre­n, das mir widerfahre­n ist."

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Die Brasiliane­rin Mirtes Renata de Souza, Mutter des verstorben­en Miguel, im Gespräch mit der DW
 ??  ?? "Ich wünschte, ich könnte sterben, und ihm mein Leben geben: Mirtes Renata auf der Titelseite der brasiliani­schen Tageszeitu­ng "Diario de Pernambuco". Rechts neben ihr die ehemalige Arbeitgebe­rin Sari Gaspar Real
"Ich wünschte, ich könnte sterben, und ihm mein Leben geben: Mirtes Renata auf der Titelseite der brasiliani­schen Tageszeitu­ng "Diario de Pernambuco". Rechts neben ihr die ehemalige Arbeitgebe­rin Sari Gaspar Real
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