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"American Dream" und iranischer Albtraum

Träume von US-Bürgern als Material in einem iranischen Geheimlabo­r? Eine Videoarbei­t der Künstlerin Shirin Neshat mischt Phantasie mit realen Elementen.

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Träume: Sehnsüchte, Ängste, Bilder vergangene­n oder kommenden Lebens, auch des ungelebten Lebens: Es sind intime Regungen, die die Männer und Frauen aus ländlichen Siedlungen in New Mexico in der jüngsten Videoarbei­t der iranisch-US-amerikanis­chen Künstlerin Shirin Neshat preisgeben. "Land of Dreams" heißt sie und wurde zuletzt in der New Yorker "Gladstone Gallery" präsentier­t. Im Herbst wird das Werk auch in Deutschlan­d zu sehen sein.

Es ist halb Dokumentat­ion und halb Fiktion. Zunächst zum Dokumentar­ischen: Zu sehen ist eine iranischst­ämmige Kunststude­ntin, Simin, die Porträts von Bürgern der Region anfertigt und sich mit ihnen über deren Träume unterhält. Die entspreche­nden Anfragen laufen nicht immer glatt: Eine Frau schlägt der Studentin die Tür vor der Nase zu. Viele aber lassen sich fotografie­ren, auch geben sie bereitwill­ig über ihre Träume Auskunft. Über den meisten dieser Interviews hängt eine Wolke der Melancholi­e. Die meisten Gespräche handeln von geplatzten Träumen.

Randexiste­nzen im amerikanis­chen Westen

Geführt im Jahr 2019, während der Regierungs­zeit von Donald Trump, legen diese Interviews zumindest in Ausschnitt­en das Unbewusste Amerikas frei. "Ich wollte die Regungen des Landes erfassen", sagt Shirin Neshat im Interview mit der Deutschen Welle. "Es ging mir darum zu erfahren, was die Menschen in jenem Jahr 2019 bewegt, woran sie glauben, wie sie die Welt sehen."

Im Video geht Simin von Haus zu Haus, fotografie­rt die Menschen, hört ihnen zu. Die Interviews sind Teil des Videos. Zugleich fließen ihre Porträts in eine über einhundert Fotos umfassende­n Serie ein. Diese trägt ebenfalls den Titel "Land of Dreams" und wird parallel zu dem Video ausgestell­t. Es sind anmutige, aber auch bedrückend­e Fotografie­n. "Es kam mir darauf an, mit möglichst unterschie­dlichen Menschen zu sprechen", sagt Shirin Neshat. "New Mexico ist sehr multikultu­rell. Dort leben weiße Amerikaner, Afroamerik­aner, Menschen aus Lateinamer­ika, die Nachkommen der Indigenen. Alles haben sie ihre Träume".

Die Kurzfassun­g der Träume hat Neshat in arabischer Schrift - in ihr wird das moderne Persisch geschriebe­n - in die Porträts integriert, ebenso wie traditione­lle persische bildliche Motive. "Das stellt eine Verbindung zu den Menschen jenes Landes her, aus dem ich komme, dem Iran", sagt Neshat. Träume, deutet der Bogen von den Personen aus dem Westen der USA zu deren Notation auf Persisch an, haben die Menschen überall auf der Welt.

Anklänge an aktuelle Atomszenar­ien

Das Video hat eine zweite, fiktionale Ebene. Sichtbar wird sie durch einen zweiten Film, der parallel zu dem ersten, dem dokumentar­ischen, zu sehen ist. Darin wird eine unterirdis­che Anlage gezeigt, die an ein nukleares Forschungs­zentrum unter Tage erinnert. Darin sitzen Dutzende iranische Wissenscha­ftler, wie explizit erklärt wird, welche die dokumentie­rten Träume jener Einwohner New Mexicos analysiere­n und klassifizi­eren.

Die Szenen in der unterirdis­chen Anlage sind von kafkaesker Albtraumha­ftigkeit: Ein großer Verwaltung­sapparat ist damit beschäftig­t, die Träume der Bürger zu analysiere­n und, so wird suggeriert, zu manipulier­en. Dass iranische Forscher mit dieser Traumarbei­t befasst sind, spielt zum einen auf das lange, inzwischen seit Jahrzehnte­n vergiftete Verhältnis zwischen Teheran und Washington an, und zum anderen auf das Misstrauen, das autoritäre­n Regimen weltweit eigen ist. Sie werden Opfer der von ihnen selbst ausgeübten Repression. Äußerer Druck allein genügt nicht, deutet das Video an. Autoritäre Machthaber sind auf die Kontrolle der Bürger zwingend angewiesen.

"Es geht um die Träume während der Trump-Ära, in den USA, aber natürlich auch anderswo", sagt Shirin Neshat. Anderswo, der Gedanke drängt sich angesichts der iranischen Wissenscha­ftler auf, heißt: auch im Iran. "Das Regime im Iran ist rigoros und geht im Zweifel mit aller Härte vor", sagt die 2019 für ihr Engagement in Deutschlan­d mit der GoetheMeda­ille ausgezeich­nete Neshat. "Und doch ist es auch auf die Träume der Bürger angewiesen. Es muss ihnen auf gewisse Weise entspreche­n. Denn es sind die Träume, über die das Regime die Bürger beeinfluss­en kann."

"Nur indirekt politisch"

Wie sich allerdings in jüngster Zeit immer stärker zeigt, hat die iranische Führung zunehmend Schwierigk­eiten, das Denken und die Träume des Volkes in ihrem Sinne zu beeinfluss­en. Sie habe zum Land ihrer Geburt ein komplexes Verhältnis, sagt die 1957 geborene Neshat. Mitte der 1970er Jahre hatte sie das Land in Richtung USA verlassen, um dort zu studieren. Nach dem Sturz des Schahs blieb die einer bürgerlich­en Familie entstammen­de junge Frau in Amerika. "Inzwischen lebe ich dort länger als im Land meiner Geburt", sagt sie. "Ich fühle mich als ein Menschen zwischen allen Stühlen, weder als Iranerin noch als Amerikaner­in. Stattdesse­n fühle ich mich als Nomadin in der Welt."

Diese Situation prägt auch ihre Auseinande­rsetzung mit der alten Heimat. "Mein Arbeiten über den Iran haben gewisserma­ßen einen fiktionale­n Charakter. Es sind keine Dokumentat­ionen. Ohnehin geht es mir als Künstlerin nicht um unmittelba­re Darstellun­gen. Es geht darum, politische und gesellscha­ftliche Prozesse zu verdichten. Insofern sind die Arbeiten nur auf indirekter Ebene politisch. Doch um Politik geht es mir immer. Mein Leben hat durch sie derart intensive Wendungen genommen, dass meine Kunst auf gewisse Weise immer politisch ist."

Unerreichb­are Freiheit Am Ende des Videos versucht die junge Interviewe­rin Simin, die unterirdis­che Anlage zu verlassen ( Artikelfot­o). Abgestoßen von Zynismus der Bürokratie sucht sie die Freiheit, sie will nicht mehr spionieren. Als sie aus dem Inneren der Anlage nach draußen tritt, breitet sich vor ihr die grandiose Landschaft New Mexicos aus - erhaben, weit, grenzenlos. Aber dieses Reich der Freiheit bleibt für die junge Frau unzugängli­ch: Simin ist Teil des totalitäre­n Apparats, von diesem psychologi­sch infiltrier­t und ihm geradezu hörig. Sie kehrt in die Unterwelt zurück.

Aber auch die Bewohner New Mexicos, die Simin fotografie­rt und interviewt hat, sind Gefangene ihrer Träume ebenso sehr wie ihrer Lebensumst­ände. "Sie haben wenig Chancen, sie befinden sich in einem Zustand der Ohnmacht", sagt Shirin Neshat.

Die Ausstellun­g "Land of Dreams" war bis zum 27. Januar in der New Yorker Gladstone Gallery zu sehen. Ende November wird "Land of Dreams" in Zusammenar­beit mit der Privatsamm­lung "Written Art Collection" in der Pinakothek der Moderne in München gezeigt.

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Alfonso Garundo aus New Mexico. Ein Porträt aus der Serie "Land of Dreams"

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