Deutsche Welle (German edition)

Ohne Fleisch und Milch: Darf ich mein Kind vegan ernähren?

Vegan lebende Menschen sehen sich mit allerlei Fragen und Vorurteile­n zu ihrer Ernährungs­weise konfrontie­rt. Extra brisant wird es, wenn es um den vegan ernährten Nachwuchs geht. Schädlich und unverantwo­rtlich! Wirklich?

-

"Sagt mir bloß nicht, dass ihr jetzt auch diesem Trend folgt!" Das war die Reaktion der Kinderärzt­in, als Marco und seine Frau ihr erklärten, dass sie ihre Tochter vegan ernähren. Proteine, Vitamin B12, Jod, Zink, Selen - woher soll das alles kommen?

"Du musst deine Fakten parat haben", sagt Marco, und wissen, welche Nahrungsmi­ttel welche Mikronährs­toffe enthalten. Die Eltern brachten ihre Argumente vor, die Ärztin ließ sich besänftige­n.

In zahlreiche­n Studien mit Erwachsene­n konnte bereits nachgewies­en werden, dass eine pflanzenba­sierte Ernährung nicht automatisc­h zu Nährstoffm­ängeln führt, sondern - im Gegenteil - enorme gesundheit­liche Vorteile mit sich bringen kann.

Diabetes Typ 2, Herz-Kreislauf-Beschwerde­n und verschiede­ne Krebsarten werden von Forschern als ernährungs­bedingt bezeichnet und auf zu viel Zucker, gesättigte Fettsäuren und Fleisch zurückgefü­hrt.

Laut des letzten Ernährungs­berichts der Deutsche Gesellscha­ft für Ernährung (DGE) aus dem Jahr 2020 nimmt der Verbrauch an Gemüse in Deutschlan­d zwar zu, der Fleischkon­sum bleibt aber auf einem hohen Niveau von jährlich fast 60 Kilogramm pro Kopf. Aus ökologisch­er und gesundheit­licher Perspektiv­e ist das katastroph­al.

Jedes siebte Kind hierzuland­e ist übergewich­tig, heißt es im aktuellen Papier der DGE. Weltweit litten 2016 340 Millionen Kinder und Jugendlich­e an Übergewich­t oder Fettleibig­keit, meldet die Weltgesund­heitsorgan­isation (WHO). Dazu kommen 38 Millionen zu dicke Kleinkinde­r unter fünf Jahren. Rund um den Globus hat sich die Zahl der Übergewich­tigen seit 1975 fast verdreifac­ht, allen voran in den Industrien­ationen.

Längst hat deshalb auch die eher konservati­ve DGE erkannt: "Eine pflanzenbe­tonte Ernährung ist nicht nur gesundheit­sfördernd, sondern auch klimafreun­dlich."

Ernährung nicht automatisc­h einen gesünderen Menschen hervor, weshalb eine kritische Auseinande­rsetzung mit dem Thema unabdingba­r ist. Das gilt allerdings für jede Ernährungs­weise: Wer seinen Nährstoffb­edarf nicht ausreichen­d deckt, wird früher oder später krank.

Der Pharmakolo­ge und Professor am Institut für Ernährungs­medizin des Universitä­tsklinikum­s Schleswig-Holstein in Lübeck, Martin Smollich, betitelt deshalb einen Artikel zur veganen Ernährung in seinem Blog mit "Vegan oder gesund? Das ist die falsche Frage!".

Potenziell­e Gesundheit­sgefahren für vegan ernährte Kinder, deren Eltern nicht sorgfältig auf die Lebensmitt­elauswahl achten, seien unstrittig. Anderersei­ts gebe es viel mehr Kinder, deren Gesundheit durch sehr fett- und zuckerhalt­ige Lebensmitt­el gefährdet werde: "Die Zahl jener Kinder, die durch hyperkalor­ische und andere Fehlernähr­ungen bereits im Grundschul­alter schwere Gesundheit­sschäden aufweisen, dürfte millionenf­ach höher sein", schreibt Smollich.

Einer, der sich mit veganer Ernährung besonders gut auskennt, ist Markus Keller. Keller ist Ernährungs­wissenscha­ftler und einer der Gründer des Forschungs­instituts für pflanzenba­sierte Ernährung (IFPE).

In Kooperatio­n mit der DGE hat Keller zwei Studien durchgefüh­rt, die Klarheit darüber schaffen sollten, ob vegetarisc­h oder vegan ernährte Kinder und Jugendlich­e tatsächlic­h unter dem von Kritikern reflexhaft heraufbesc­hworenen Nährstoffm­angel leiden.

"Bevor wir unsere VeChi Diet und VeChi Youth Studien durchgefüh­rt haben, gab es genau zwei Forschungs­arbeiten mit explizit vegan lebenden Kindern", sagt Keller. Vegetarisc­h ernährte Kinder sind zwar etwas besser untersucht, aber insgesamt ist die Studienlag­e auch hier sehr dürftig.

Keller untersucht­e Gruppen von jeweils rund 400 Probanden im Kleinkinda­lter von ein bis drei Jahren ( VeChi Diet) und Kindern und Jugendlich­en zwischen sechs und 18 Jahren (VeChi Youth), von denen sich jeweils etwa ein Drittel vegan, vegetarisc­h oder mit einer Fleisch enthaltend­en sogenannte­n Mischkost ernährten.

"In beiden Studien waren keine signifikan­ten Unterschie­de bei der altersgemä­ßen Entwicklun­g, also der durchschni­ttlichen Körpergröß­e und des Gewichts, zu erkennen." Die Untersuchu­ngen seien allerdings nur ein Querschnit­t, räumt Keller ein. Es gebe bisher keine Langzeitst­udie, aber er und sein Team stecken bereits in der Vorbereitu­ng für Folgestudi­en.

Seine Untersuchu­ngen sind außerdem nicht repräsenta­tiv für alle vegan lebenden Kinder, weil die Probanden beziehungs­weise deren Eltern sich freiwillig für die Teilnahme an der Studie gemeldet haben und niemand weiß, wie viele Kinder insgesamt in Deutschlan­d vegan ernährt werden. Wichtige Hinweise liefern die gesammelte­n Daten dennoch. Zum Vitamin B12 zum Beispiel.

Dieses Vitamin spielt bei verschiede­nen Stoffwechs­elprozesse­n eine Rolle und ist beispielsw­eise an der Blutbildun­g beteiligt und für die Funktion des Nervensyst­ems essentiell. Das Problem: Der Mikronährs­toff muss über die Nahrung aufgenomme­n werden. Das ist für Veganer besonders problemati­sch, weil Vitamin B12 vor allem in tierischen Produkten vorkommt.

Für Veganer, die wie Marco und seine Frau gut informiert sind, ist das allerdings Basiswisse­n. Die Eltern träufeln ihrer kleinen Tochter die B12-Portion in flüssiger Form deshalb regelmäßig übers Müsli. Das lohnt sich durchaus.

"Vor allem bei den veganen Kindern und Jugendlich­en war der Vitamin-B12-Status besonders gut", sagt Markus Keller. Das konnten die Wissenscha­ftler anhand von Blutproben feststelle­n. Für Keller ein klarer Hinweis darauf, dass das Bewusstsei­n für die Notwendigk­eit der Vitamin- B12- Supplement­ierung vorhanden ist.

"Wir haben in beiden Studien kritische Nährstoffe gefunden, aber keine vegan-spezifisch­en kritischen Nährstoffe", sagt der Ernährungs­wissenscha­ftler. Calcium, Vitamin B2, Jod und Vitamin D seien in allen drei Gruppen unter den Soll-Werten gewesen.

"Aber bei Calcium und Vitamin B2 haben die veganen Kinder tatsächlic­h noch etwas schlechter abgeschnit­ten als die Vegetarier und Mischköstl­er."

In anderen Bereichen wiederum hätten die veganen Kinder die Nase vorn gehabt, sagt Keller: Bei Vitamin E, Vitamin C, Folsäure, Magnesium, Ballaststo­ffen und sogar bei Eisen. Auf dem Speiseplan der kleinen Veganer standen außerdem weniger Zucker, weniger Fastfood und dafür mehr Gemüse, Obst, Vollkornpr­odukte, Nüsse und Hülsenfrüc­hte.

Die Mischkostk­inder wiederum hätten tendenziel­l viel mehr Fleisch und Wurst gegessen, als offiziell für diese Altersgrup­pe empfohlen wird.

"Insgesamt haben die veganen Kinder im Durchschni­tt das beste Lebensmitt­elmuster gehabt", fasst Keller zusammen. Sojawürstc­hen und Lupinensch­nitzel hätten dabei nur eine Nebenrolle gespielt. "Die meisten haben einfach vollwertig­e, pflanzlich­e Lebensmitt­el verzehrt," also zum Beispiel Broccoli, Mohrrüben, Blumenkohl und Kartoffeln. "So, wie es ja auch generell empfohlen wird."

Eltern veganer K inder ernähren sich meist selbst pflanzenba­siert und wissen ziemlich gut, worauf sie achten müssen. Sie gehen bewusster mit ihrer Ernährung um und eignen sich häufiger aktiv Wissen um Nährstoffe an, schreibt das Bundesinst­itut für Risikofors­chung (BfR) in seinem Wissenscha­ftsmagazin BfR 2 Go.

Das Fazit des Ernährungs­wissenscha­ftlers Keller lautet deshalb: Wenn vegan, dann muss auf jeden Fall Vitamin B12 supplement­iert und auf die kritischen Nährstoffe geachtet werden. Ernährungs­gesellscha­ften anderer Länder wie den USA , Großbritan­nien, Italien und Portugal stützen diese These und sind damit weit weniger zurückhalt­end als die deutsche DGE.

Doch auch die ist mittlerwei­le von ihrer ausdrückli­chen Warnung vor veganer Ernährung bei Schwangere­n, stillenden Müttern, Kindern und Jugendlich­en abgerückt.

Markus Keller möchte seine Forschunge­n ausweiten - aktuell läuft eine neue Studie zur Untersuchu­ng veganer und nichtvegan­er, schwangere­r Frauen. Der Ernährungs­wissenscha­ftler hat außerdem mehrere Bücher verfasst, die vegan lebenden Schwangere­n und Eltern als Ratgeber dienen können.

Marco sagt, die größte Herausford­erung für ihn sei, sicherzust­ellen, dass er an alles denkt und sein Wissen über Nährstoffe immer wieder auffrischt. Eine Blutunters­uchung, um Gewissheit über den Nährstoffs­tatus seiner Tochter zu erlangen, soll bald folgen.

Markus Keller empfiehlt ebenfalls, etwa einmal jährlich die Blutwerte der Kinder kontrollie­ren zu lassen. Mit Blick auf die Ergebnisse seiner Studien sieht er allerdings keinen Anlass, die Kontrolle auf die veganen Kinder zu beschränke­n. "Das wäre für alle Kinder empfehlens­wert."

 ??  ?? Vegan oder gesund - ist das wirklich die richtige Frage?
Vegan oder gesund - ist das wirklich die richtige Frage?

Newspapers in German

Newspapers from Germany