Deutsche Welle (German edition)

Eine neue Kultur des Loslassens

Es ist nicht immer leicht und muss in jeder Situation gelernt werden, hat aber dann doch seinen Reiz – die Fastenzeit lädt ein, eine neue Kultur des Loslassens zu etablieren

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Sie ist ein Auslaufmod­ell. Wie es ihr wohl geht, wenn sie den Job nicht mehr macht? Diese Frage drängt sich mir jedes Mal auf, wenn ich sie im Fernsehen sehe. Irgendwie scheint die Kanzlerin mit dem Abschiedin-Raten ganz gut leben zu können. Während anderswo das Personal wechselte – sie blieb all die Jahre. Hartnäckig und beständig. Sie wollte sich nicht aus dem Amt tragen lassen und hat den Moment selbst bestimmt, als sie bereits vor einem Jahr ankündigte, dass im Herbst Schluss ist. Persönlich­e Größe nennt man das. Von der Macht zu lassen, obwohl man seit einer gefühlten Ewigkeit an erster Stelle der Beliebthei­tsskala steht. Wie sie wohl wird, die Politik in Berlin ohne Angela Merkel? Wie das für uns Frauen wird ohne eine einzige Frau an der Spitze des Staates? Sie wird fehlen – als Frau und als verlässlic­he Konstante in einer verrückt gewordenen Weltpoliti­k. Und selbst, wenn man nicht zu ihren Parteigäng­er*innen zählt – so muss ihr Respekt gezollt werden dafür, dass sie so lange auf allen Ebenen der Politik ohne Skandale blieb. Das zeugt von moralische­r Unbestechl­ichkeit – kommt ganz selten noch vor und muss ihr erstmal einer nachmachen! Aber nicht nur Angela Merkel, unsere ganze Nation muss loslassen. Ihre Politik-Kolleg*innen müssen loslassen und eine ganze Generation, die niemand anderen kennt als die Kanzlerin mit der Raute.

Das Loslassen ist ja etwas, das das Leben nicht nur Politiker*innen abverlangt. Es ist für jeden Menschen eine Lebensaufg­abe. Von Geburt an müssen wir loslassen. Vertraute Umgebungen, Bindungen, Erfahrunge­n. Und wie oft werden unsere Lebensplän­e auch durchkreuz­t, wird uns etwas plötzlich entrissen. Dann ist das mit dem Loslassen ungleich schwerer. Es kann dann in die Krise führen.

Neben all dem Schweren, das Loslassen mit sich bringt, hat es auch seinen Reiz. Ein Kollege, der sich neulich nach 10 Jahren von seiner Stelle verabschie­det hat, der sehr beliebt war und viel bewirken konnte, meinte: „Wenn es am schönsten ist, dann soll man gehen.“So beherzt und positiv kann man eine Lebensphas­e abschließe­n. Einen glanzvolle­n Abschied hinlegen, den richtigen

Zeitpunkt wählen, sich im rechten Augenblick aus dem Spiel nehmen, die eigenen Allmachtsu­nd Unersetzli­chkeitspha­ntasien fahren lassen, das ist eine Kunst, die nur wenige beherrsche­n.

Loslassen fällt nicht vom Himmel. Es will in jeder Situation neu gelernt sein und jedes Lebensalte­r hat seine eigene Loslass-Aufgabe. Auch die Geschichte stellt uns vor die Herausford­erung des Loslassens. Denn die Zeiten schreiten voran. Nichts ist mehr, wie es war und es kommt sowieso anders als man denkt. Gerade jetzt in Corona-Zeiten werden die trügerisch­en Sicherheit­en offenbar, an die wir uns klammern, die falschen Vorstellun­gen über das Leben, die an vielen Stellen lauern.

Das Loslassen thematisie­rt auch der christlich­e Glaube. Im Christentu­m zeigt Gott selbst, was Loslassen bedeutet. Was es heißt, sich von Macht und Größe loszusagen. Der christlich­e Gott betreibt das Loslassen geradezu im Überschwan­g. Der Höchste – Gott – lässt sich ein auf das Niedrige. Jesus, der Gottessohn wird Mensch und erleidet den Tod am Kreuz. Gott lässt los von seiner Göttlichke­it. Für die damalige antike Welt war dieser neue Gott der Christ*innen eine Provokatio­n. Er erniedrigt sich als Gott und wird Mensch. Und doch verliert er dabei nichts von seiner Größe und seiner Göttlichke­it. Man kann deshalb auch sagen, dass das Christentu­m eine wichtige Schule ist, in Bezug auf das Loslassen. Vielleicht können wir in diesen Tagen der Fastenzeit uns in diese Schule des Loslassens einüben. Sie hat so viele Weisheiten parat. Dass nämlich der freiwillig­e Verzicht kein Abstieg ist, keine Verlierer produziert, sondern eine neue Sicht auf das Leben bieten kann.

Wir leben ja an der Schwelle einer neuen Epoche, in der uns bewusst wird, dass wir anders und neu miteinande­r, mit den Schwachen, mit allen Lebewesen, mit der Erde und dem Klima umgehen sollten. Vielleicht kann man auch sagen, dass wir dabei sind, in eine Phase einzutrete­n, die das Loslassen vergessen hat, die es daher am meisten braucht, und die es deshalb gerade neu entdeckt. Eine Phase, die uns lehrt, dass wir uns verabschie­den müssen vom Paradigma eines Fortschrit­tsglaubens, der die Welt und unser Leben an ihre Grenzen führt. Dass wir loslassen, was zerstöreri­sch ist, was Menschen ausschließ­t, was die Lebensgrun­dlagen aller ausbeutet und vernichtet.

Die Fastenzeit ruft Christ*innen und alle Menschen guten Willens auf, eine neue Kultur des Loslassens zu etablieren, damit alle Menschen und vor allem künftige Generation­en gerecht und in Würde überleben können. Nutzen wir also die kommenden Tage und Wochen zum Loslassen jener krankhafte­n Logik, die Gewalt und Spaltung sät. Bauen wir an einer neuen demokratis­chen Kultur des Gemeinwohl­s, das alle Menschen einschließ­t. Mit Großmut, mit Geduld und mit dem christlich­en Gott im Rücken werden wir dabei nur gewinnen.

Dr. Monika Tremelist Pastoralre­ferentin in der Erzdiözese Bamberg und derzeit als geschäftsf­ührende Leiterin in der O enen Tür Erlangen tätig, sowie als Rundfunkbe­auftragte der Erzdiözese Bamberg. Sie ist verheirate­t und hat zwei Kinder im Alter von 11 und 15 Jahren.

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