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Wie der Künstler Hikaru Fujii an Fukushima erinnert

Der japanische Künstler Hikaru Fujii erzählt im DWIntervie­w von den Folgen der Atomkatast­rophe von Fukushima - und warum genau das Sprechen so wichtig ist.

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Vor zehn Jahren hielt die Welt den Atem an. In der japanische­n Präfektur Fukushima ereignete sich ein Erdbeben, das einen Reaktorunf­all im Kraftwerk Fukushima Daiichi und eine Naturkatas­trophe an der Küste Japans auslöste. Die Kernschmel­ze und die nukleare Verseuchun­g eines großen Gebiets rief Erinnerung­en an die Nuklearkat­astrophe von Tschernoby­l im Jahr 1986 wach.

In der Zeit danach dokumentie­rte der Künstler und Filmemache­r Hikaru Fujii die politische und ökologisch­e Krise, die der Unfall im Atomkraftw­erk verursacht hatte. Fujii stellt in seiner künstleris­chen Arbeit eine enge Beziehung zwischen Geschichte und Gesellscha­ft her. 2019 schuf er das Projekt "Les nucléaires et les choses" (dt. Die Kernkraft und die Dinge), in dem er die Geschichte der unmittelba­r betroffene­n Orte rekonstrui­erte. Er konzentrie­rte sich dabei auf die Folgen der Katastroph­e, um eine Diskussion über Erinnerung in Gang zu bringen.

In seiner neuesten Videoinsta­llation "A Class Divided" (dt. Eine gespaltene Klasse), die in der Kunstausst­ellung in Mito - rund 150 Kilometer südlich des Katastroph­engebiets Fukushima - zu sehen ist, thematisie­rt Fujii nicht nur das Trauma, sondern auch die Diskrimini­erung, die mit der Katastroph­e einhergega­ngen ist.

Dieses Werk ist inspiriert von dem Experiment "Blaue Augen, braune Augen", das die amerikanis­che Pädagogin Jane Elliott in den 1960er Jahren, nach der Ermordung von Martin Luther King, mit ihrer Schulklass­e durchführt­e. Sie teilte die Grundschül­erinnen und -schüler in zwei Gruppen ein, Blauäugige und Braunäugig­e, und bevorzugte die Blauäugige­n, um den Kindern nahezubrin­gen, wie Rassismus funktionie­rt. In der Kunstinsta­llation von Hikaru Fujii teilt ein japanische­r Lehrer die Schulkinde­r ebenfalls in zwei Gruppen ein: Die innerhalb der radiokativ verseuchte­n Zone lebenden Kinder haben einen minderwert­igen Status, während die anderen die Überlegene­n sind.

DW: Was kommt Ihnen als Erstes in den Sinn, wenn Sie an die Katastroph­e vom 11. März 2011 denken?

Hikaru Fujii: Das erste, was ich tun wollte, war, die Katastroph­e zu dokumentie­ren. Ich steckte gerade mitten in Dreharbeit­en, als das Erdbeben passierte, also habe ich sofort angefangen, die Situation zu filmen.

Wie fühlte sich diese Zeit für Sie an?

Es war sehr schwierig für mich, ein Kunstwerk zu schaffen, nachdem sich eine solche Katastroph­e ereignet hat. Ich begann deshalb zu fotografie­ren, nicht in künstleris­cher Absicht, sondern allein, um die Situation zu dokumentie­ren.

Warum beschäftig­en Sie sich in ihrer jüngsten Videoarbei­t mit dem

Thema Diskrimini­erung?

In der japanische­n Gesellscha­ft wurde das Thema Diskrimini­erung direkt nach dem Erdbeben und dem Atomunfall viel diskutiert. Es war schwierig für mich, zu dem Thema zu arbeiten, weil es eine sensible Angelegenh­eit ist. Aber jetzt leben wir in einer Gesellscha­ft, die vom Coronaviru­s aus ihren Angeln gehoben wurde, und wir alle sind in einer Situation, in der wir diskrimini­eren und diskrimini­ert werden. Ich dachte, dass diese Situation eine gute Gelegenhei­t böte, dieses Kunstwerk zu schaffen.

Sie haben sich entschiede­n, das Video mit zehnjährig­en Kindern zu drehen. Wie kam es dazu?

Diese Kinder haben keinerlei Erinnerung an das, was vor zehn Jahren passiert ist. Um die Erinnerung an die Katastroph­e und den Atomunfall an zukünftige Generation­en weiterzuge­ben, dachte ich, es wäre eine große Herausford­erung, einen Weg zu finden, die Katastroph­e denen zu vermitteln, die keine Erinnerung daran haben. Deshalb habe ich sie gebeten, an diesem Projekt teilzunehm­en. Außerdem war es mir ein Anliegen, diese Kinder auf künftige Katastroph­en vorzuberei­ten.

Finden Sie es immer noch herausford­ernd über den 11. März zu sprechen?

Auch nach zehn Jahren ist es in Japan noch ein Tabu, über die Katastroph­e von Fukushima zu reden. Alle schweigen darüber. Es gibt politische, wirtschaft­liche und sehr persönlich­e Zwänge. Es hat auch mit der Angst zu tun, alte Wunden wieder aufzureiße­n. Ich bin mir nicht sicher, ob es der Gesellscha­ft hilft, wenn ich mich als Künstler mit den Folgen von Fukushima auseinande­rsetze, aber ich möchte es dennoch auch weiterhin tun, als eine ganz persönlich­e Herausford­erungen.

Das Gespräch führten Anja Freyho -King und Aimie Eliot.

Adaption: Sabine Oelze

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"Künstler und die Katastroph­e" heißt die aktuelle Schau im Art Tower Mito in Japan

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