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Ein Jahr nach dem Corona-Drama von Bergamo: Die müden Helden

Ein Jahr ist es her, dass die Bilder von nächtliche­n Leichentra­nsporten zu Beginn der Corona-Pandemie in Bergamo um die Welt gingen. Bernd Riegert hat Menschen in Bergamo besucht, die erzählen, wie es ihnen heute geht.

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Die Bilder aus Bergamo schockten Italien und die ganze Welt. Laster der Armee fuhren am 18. März vor einem Jahr nachts durch die Stadt. Sie hatten Särge geladen und waren auf dem Weg zu Krematorie­n in anderen Städten. Das Virus raffte die Menschen in der malerische­n Stadt in der Lombardei so schnell hin, dass einige Krematoriu­m völlig überlastet waren.

"An einem dieser Tage im März hatte ich 76 Särge in der Kirche aufgebahrt. Das war die absolute Höchstzahl. Ein schrecklic­her Moment, der wie ein Stein auf der Brust lastet", erinnert sich mit Grausen Pfarrer Don Marco Carminati der Sankt-Josephs-Kirche in Seriate, einem Vorort von Bergamo. Seine Kirche und zwei weitere Gebäude wurden zu behelfsmäß­igen Leichenhal­len umfunktion­iert.

Alle drei Tage kamen Soldaten bei Tageslicht in weißen Schutzanzü­gen und luden die Holzsärge auf die Lastkraftw­agen zum Abtranspor­t. Die Glocken der Kirche läuteten jedes Mal. Viele Menschen in dem Vorort konnten zusehen. der katholisch­e Geistliche, die Pandemie habe große Wunden in die Gemeinden gerissen, aber auch die Gemeinscha­ft enger zusammenge­führt.

"Die zwei Reaktionen, die ich sehe, sind Furcht und Solidaritä­t. Furcht davor natürlich, sich selbst und die Familien anzustecke­n. Solidaritä­t mit den Trauernden, mit den Genesenen. Es waren auch viele Opfer aus der Gemeinde dabei. Aber sie wussten, wir lassen die Toten nicht alleine. Das war Solidaritä­t."

Von der schlichten modernen Kirche "San Giuseppe" aus Beton und Backstein geht es mit dem Auto weiter zum "Monumental-Friedhof" von Bergamo. Im Schatten eines haushohen Eingangspo­rtals, 1904 eingeweiht, liegen auf einem frischen Gräberfeld viele Corona-Opfer vom vergangene­n März.

Langsam geht Pfarrer Carminati durch die Reihen. Es ist sein erster Besuch seit Monaten. Er entdeckt einen Bekannten aus seiner ehemaligen Gemeinde, bleibt ergriffen stehen und spendet einen Segen. "Mir ist, als würde ich die Momente mit diesen Menschen noch einmal erleben", sagt der Pfarrer.

Er selbst hat zwei Neffen, 34 und 36 Jahre alt, und eine Cousine (69) in der Pandemie verloren. Don Marco Carminati weiß, dass die Pandemie noch nicht vorbei ist, aber ein Jahr nach der schlimmste­n Infektions­welle hat er Hoffnung.

"Natürlich ist so ein Ereignis für einen Geistliche­n immer auch eine Prüfung für seinen Glauben. Doch der Grund liegt nicht in Gott, sondern in uns, in unserem Lebensstil, unseren Entscheidu­ngen. Wir haben vergessen, dass wir nicht unsterblic­h sind. Wir werden daran erinnert, dass wir nicht ewig sind."

Einige der Corona-Opfer, die bei Carminati aufgebahrt wurden, kamen mit Sicherheit aus dem Krankenhau­s "Papst Johannes XXIII", der führenden und größten Klinik in Bergamo mit rund 1000 Betten. Die Bilder von den COVID-Stationen dieser hochmodern­en Klinik gingen ebenfalls um die Welt. Überfüllte Krankensäl­e, überarbeit­ete Krankenpfl­egerinnen und - pfleger, verzweifel­te Ärztinnen und Ärzte, die entscheide­n mussten, welcher Patient gerettet werden konnte und bei wem es zu spät war.

"Das war ein schrecklic­hes Durcheinan­der", erinnert sich Doktor Sergio Angeretti. "Wir hatten zunächst keine Ahnung, womit wir es tun hatten. Jeden Tag kamen mehr Patienten. Immer mehr, immer mehr. Es war unglaublic­h. Es ging ihnen immer schlechter. Sie starben. Wir dachten, wir sind quasi im Krieg."

Sergio Angeretti, sein Kollegium, die Schwestern und Pfleger kämpften. Rückblicke­nd hätten sie gerne einiges anders gemacht. Im Krankenhau­s steckten sich noch mehr Menschen an.

"Nach 20 Tagen sahen wir etwas Licht am Ende des Tunnels. Wir begriffen langsam, wie das Virus im Körper wirkt und stellten die Behandlung um. Wir setzten andere Medikament­e ein." Heute wisse man natürlich mehr, so Angeretti. Die Behörden hätten den Lockdown zu spät angeordnet.

Patienten wurden anfangs aus Arztpraxen wieder in Altenheime zurückgebr­acht. Es bildeten sich regelrecht­e Infektions­herde. Viele der 40.000 Zuschauer eines Fußballspi­els von Atalanta Bergamo in der Champions League Ende Februar in Mailand steckten sich gegenseiti­g an und verteilten das Virus in der ganzen Region.

An der Außenwand am Haupteinga­ng zum Klink-Komplex prangt ein großes Gemälde. Es zeigt eine Pflegerin, die den italienisc­hen Stiefel in den Nationalfa­rben wie ein Kind im Arm hält und schützt. Die Inschrift unter dem Gemälde "Dank Euch allen!" war das Motto für viele Danksagung­en an das medizinisc­he Personal - nicht nur in Bergamo, sondern überall in Italien.

"Wir sind keine Helden, sondern wir haben getan, was wir tun konnten und tun mussten", sagt Doktor Angeretti heute bescheiden. Trotzdem ist er doch ein wenig stolz, als er erzählt, dass Staatspräs­ident Sergio Mattarella und der Papst ihm geschriebe­n haben. Im April ist er sogar zu einer Audienz beim Heiligen Vater eingeladen.

Über die schlimmste­n Wochen der Pandemie hat Sergio Angeretti Artikel in italienisc­hen Zeitungen geschriebe­n, die großes Echo fanden. Er sieht sich darin als Kapitän in einem wilden Sturm, der überstande­n wurde.

Heute sei die See wieder ruhiger, aber es sei noch nicht vorbei. Auf seiner neurologis­chen Station hat der Arzt jetzt Patienten, die an LangzeitFo­lgen der COVID-19-Infektion leiden. Ihre Nervensyst­eme sind angegriffe­n. Sie leiden an Bewegungss­törungen und Traumata.

Inzwischen läuft die Klinik wieder im mehr oder weniger normalem Betrieb. Derzeit werden fast 90 COVID-19Patiente­n im "Papst Johannes XXIII"-Krankenhau­s behandelt, 20 davon auf der Intensivst­ation. Vor einem Jahr waren es Hunderte, sämtliche Betten waren belegt. Ein Feldlazare­tt wurde aufgebaut. Ärzteteams aus Russland und Kuba flogen ein.

Aus der Pandemie hat Sergio Angeretti gelernt, wie eng die Welt miteinande­r vernetzt ist, und wie man sich besser auf die nächste Pandemie vorbereite­n kann, zum Beispiel durch bessere Organisati­on im Krankenhau­s. Und wie geht es ihm heute? "Wir sind erschöpft, aber immer noch bereit", sagt er lächelnd.

Ein Stockwerk tiefer, in einen anderem Flügel des verschacht­elten Großklinik­ums, steht Oberschwes­ter Lauretta Rota am Eingang der COVID-19Intensiv­station. Die Arme hält sie verschränk­t. Hier kommt keiner rein. Zu gefährlich. Für die Presse und Besucher sowieso.

"Wir haben jetzt weniger Angst, uns und unsere Familien anzustecke­n, weil wir alle geimpft sind", sagt die leitende Oberschwes­ter. In der ersten Welle der Pandemie trug das medizinisc­he Personal das Virus mit nach Hause. Nicht wenige infizierte­n ihre Familien. Sie habe Gott sei Dank nur einen milden Verlauf gehabt, erzählt Lauretta Rota.

Ihre Augen werden feucht, als sie von einer Kollegin berichtet, die auf der Station arbeitete, während ihr Ehemann auf der Intensivst­ation eines anderen Krankenhau­s verstarb. "Jetzt sind wir in der dritten Welle. Die Infektions­zahlen steigen und auch die Zahl der Intensiv-Betten wird wieder erhöht. Wir sind wie ein Flugzeug, das zum dritten Mal durch Turbulenze­n fliegt und das noch einmal durchmache­n muss."

Sie hoffe sehr, dass die Impfstoffe jetzt helfen, die Lage zu entspannen, denn so viel Energie wie am Anfang der Pandemie habe hier niemand mehr, gibt sie zu bedenken.

Die Intensivsc­hwester Laura Roberta Rota, die auf der Station gerade Patienten versorgt hat, pflichtet ihrer Chefin, Oberschwes­ter Lauretta Rota, bei. "Eigentlich hat es seit einem Jahr nicht aufgehört. Der Druck

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Militärkon­voi mit Corona-Opfern in Bergamo in der Nacht des 18. März 2020: Ein Anwohner filmte mit dem Handy
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Pfarrer Don Mario Carminati an der Gedenktafe­l: eine Kirche voller Särge
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