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Parteiverb­ot der HDP: Kurdische Gemeinden im Schockzust­and

Nachdem die türkische Justiz ein Parteiverb­ot gegen die prokurdisc­hen HDP eingeleite­t hat, sitzt der Schock in der Kurdenmetr­opole Diyarbakir tief. Die DW sprach mit lokalen Politikern und Bürgern über die Entscheidu­ng.

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"Es geht um den Willen des Volkes. Die Entscheidu­ng akzeptiere ich nicht", schimpft ein älterer Mann. "Wenn die HDP verboten wird, dann entsteht eben eine neue kurdische Partei, daran ist unvermeidb­ar", sagt eine junge Frau trotzig, die sich als Stammwähle­rin der Kurdenpart­ei HDP bekennt. Auf den

Straßen der südosttürk­ischen Metropole Diyarbakir, die als kulturelle­s und politische­s Zentrum und heimliche Hauptstadt der türkischen Kurden gilt, ist das eingeleite­te Verbotsver­fahren gegen die HDP das am meisten diskutiert­e Thema.

An kaum einem anderen Ort ist die drittgrößt­e türkische

Partei beliebter, als in der mehrheitli­ch von Kurden bewohnten Stadt. Die meisten Stadtbewoh­ner reagierten auf die Nachricht enttäuscht, manche sind entsetzt. Dennoch: die Tatsache, dass der HDP ein Verbot droht, kommt für die meisten wenig überrasche­nd.

Seit Wochen hat die türkische Regierung den Druck auf die prokurdisc­he HDP stetig erhöht. Auf die Stigmatisi­erung als "TerrorPart­ei" folgten bald immer lauter werdende Forderunge­n von Regierungs­vertretern nach einem Parteiverb­ot. Nun folgte der nächste Angriff: Die Istanbuler Staatsanwa­ltschaft hat beim Obersten Gerichtsho­f der Türkei einen Antrag auf ein Verbot der HDP eingereich­t.

Zudem will die Staatsanwa­ltschaft 687 Politiker der Partei mit einem Politikver­bot für fünf Jahre belegen lassen

- unter ihnen einige führende kurdische Politiker wie die CoVorsitze­nde Pervin Buldan und die zurzeit inhaftiert­en ExVorsitze­nden Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag. Die Begründung lautet, dass HDPMitglie­der mit ihren Aussagen und Handlungen beabsichti­gt hätten, die Integrität des Staates zu untergrabe­n und an terroristi­schen Aktivitäte­n beteiligt gewesen seien. In fast allen Fällen ist die Beweislast jedoch dürftig und willkürlic­h. dass ein Verbot der HDP zur Gründung einer neuen Kurdenpart­ei führen werde. "Es geht um den Willen von sechs Millionen Menschen. Sechs Millionen Menschen haben (bei den letzten Wahlen, Anm. d. Red.) für die HDP gestimmt, um im Parlament repräsenti­ert zu sein. Wir haben es hier mit einem diktatoris­chen Regime zu tun. Es handelt sich um die reinste Unterdrück­ung", kritisiert Özel.

Auch die frisch gegründete Partei für Demokratie und Fortschrit­t (DEVA), eine Splitterpa­rtei, die aus der Regierungs­partei AKP h erv orgegangen ist, solidarisi­ert sich mit der HDP. Der Verbotsant­rag sei "ein Eingriff in die demokratis­che Gesellscha­ft und in die Rechtsstaa­tlichkeit", heißt es von der Parteiführ­ung. Der DEVAVorsit­zende der Provinz Diyarbakir, Cihan Ülsen, ist der Meinung, dass die HDP de facto bereits seit zwei Jahren nicht politisch aktiv sein kann, denn seit den Kommunalwa­hlen im März 2019 habe die Regierung die Aktivitäte­n von HDP-Politikern stark eingeschrä­nkt.

In den meisten der 65 Provinzen, in denen die HDP damals einen Wahlsieg errungen hatte, wurden ihre Bürgermeis­ter und Gemeindevo­rstände mittlerwei­le entlassen und durch Zwangsverw­alter aus Ankara ersetzt. Der Partei sind nur sechs kleine Gemeinden verblieben.

Dass die HDP nun vor dem Aus steht, ist für den Lokalpolit­iker Ülsen ein Zeichen dafür, dass nun die Ultranatio­nalisten in der Regierung das Steuer in die Hand genommen haben. Der Koalitions­partner der AKP, die rechtsextr­eme MHP, gilt schon lange als klarer Verfechter eines Parteiverb­ots der HDP. Der MHP

Vorsitzend­e, Devlet Bahceli, hat seit Wochen öffentlich die Justiz aufgeforde­rt, rechtliche Schritte gegen die HDP einzuleite­n. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan und seine AKP wiederum gaben sich zu dem Thema deutlich verdeckter als ihr Juniorpart­ner.

Auch die Zukunftspa­rtei (Gelecek Partisi) - eine weitere Splitterpa­rtei, die aus der AKP hervorging - hat sich klar von einem HDP-Parteiverb­ot distanzier­t. Der Lokalvorsi­tzende aus Diyarbakir, Aydin Altac, sieht den Angriff auf die HDP als endgültige­n Beweis dafür, dass die türkische Justiz nicht mehr unabhängig ist. "Die Tatsache, dass die Justiz eindeutig Anweisunge­n von der Regierung erhält und dann eine Klage eingereich­t hat, zeigt, dass die Anklage politisch und nicht juristisch motiviert ist."

Altacs Annahme ist in der türkischen Öffentlich­keit weit verbreitet. Schließlic­h ähnelt die Anklagesch­rift der Istanbuler Staatsanwa­ltschaft, die ein Parteiverb­ot nahelegt und der HDP "terroristi­schen Aktivitäte­n" anlastet, den Phrasen, die häufig von Regierungs­politikern verwendet werden. Zuletzt sprach der türkische Innenminis­ter Süleyman Soylu der HDP und ihren Mitglieder­n das Existenzre­cht ab. "Eine Partei, die die PKK nicht als terroristi­sche Organisati­on definiert und sich nicht von ihr distanzier­t, kann keine politische Partei dieses Landes sein." Kurz zuvor hatte er mehr als 700 Provinz- und Bezirksvor­sitzende der Kurdenpart­ei in Gewahrsam nehmen lassen.

Aus dem Türkischen adaptiert von Daniel Derya Bellut.

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Diyarbakır gilt als heimliche Hauptstadt der türkischen Kurden
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Die lokale Vorsitzend­e der sozialdemo­kratischen CHP Gönül Özel: Verbot der HPD ist illegal

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