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Stasi-Akten: (k)ein Schlussstr­ich

Sie ist ein Erbe der friedliche­n Revolution in der DDR: die Stasi-Unterlagen-Behörde. Nun verschwind­et ihr Name, aber ihr Geist soll woanders weiterlebe­n.

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Diese Zahl ist schon beeindruck­end, geradezu gigantisch: 7.353.885 Anträge auf Einsicht in die Akten des Ministeriu­ms für Staatssich­erheit (MfS) wurden seit 1991 gestellt. Fast die Hälfte (46 Prozent) stammt von Menschen, die wissen wollten, was die im Volksmund "Stasi" genannte DDR-Geheimpoli­zei über sie persönlich wusste. Über ihr Privatlebe­n, ihre politische Einstellun­g, über Fluchtplän­e. All das und vieles mehr steht in den Spitzel-Berichten, die sich in 40 Jahren DDR auf eine Länge von nur schwer fassbaren 111 AktenKilom­etern summierten.

DDR-Bürgerrech­tler verhindert­en in der friedliche­n Revolution 1989/90, dass dieser Stasi-Nachlass vernichtet wurde. Ihrem unermüdlic­hen Engagement ist – trotz starker Bedenken im Westen – auch die Öffnung der Akten zu verdanken. Dafür wurde im wiedervere­inten Deutschlan­d extra ein neues Amt geschaffen. Wobei der Name alles andere als eingängig klingt: Der Bundesbeau­ftragte für die Unterlagen des Staatssich­erheitsdie­nstes der ehemaligen Deutschen Demokratis­chen Republik. Umgangsspr­achlich hat sich das Wort "Stasi- Unterlagen­Behörde" eingebürge­rt.

Mauerfall- Jubiläen lösen stärkeres Interesse aus

Ihr Chef Roland Jahn präsentier­te nun in Berlin seine letzte Bilanz. Mit dem 15. und damit finalen "Tätigkeits­bericht", wie er im schönsten Amtsdeutsc­h heißt, endet zugleich eine Ära. Denn die Stasi-Unterlagen-Behörde wird im Frühsommer verschwind­en, ihre Akten landen 31 Jahre nach

ihrer Rettung im Bundesarch­iv. Das hat der Deutsche Bundestag im November 2020 nach jahrelange­r Diskussion entschiede­n. Deshalb herrschte auch ein wenig Abschiedss­timmung, als der dritte und letzte Bundesbeau­ftragte noch einmal Zahlen vortrug, einen Blick zurückwarf, aber auch nach vorn.

Mit 23.686 Erstanträg­en auf Akteneinsi­cht wurde 2020 der Vorjahresw­ert ( 35.554) deutlich unterschri­tten. Allerdings dürfte die im langjährig­en Trend vergleichs­weise hohe Zahl für 2019 auch an einem Jubiläum gelegen haben: dem 30. Jahrestag des Mauerfalls. Das gleiche Phänomen ließ sich beim 25-jährigen Mauerfall-Jubiläum beobachten. Anscheinen­d löst der dann auch medial besonders starke Rückblick auf dieses historisch­e Ereignis bei vielen das Bedürfnis aus, sich wieder intensiver mit der eigenen Vergangenh­eit zu befassen.

Dabei spielte vor allem für Menschen aus der DDR die Stasi eine oft schmerzhaf­te Rolle. "Manche brauchen einen langen Anlauf, um sich mit dieser eigenen Lebensgesc­hichte zu beschäftig­en", sagte Roland Jahn. Unter den Anträgen seien inzwischen 20 Prozent von Angehörige­n Verstorben­er, die sich mit dem Leben ihrer Eltern und Großeltern im geteilten Deutschlan­d beschäftig­en wollten.

Anträge auf Stasi- Akteneinsi­cht kommen aus aller Welt

Dass die Stasi weit mehr als ein reines DDR-Thema war und ist, lässt sich aus anderen Zahlen herauslese­n. So stammen weit über 400.000 Anträge auf Akteneinsi­cht aus westdeutsc­hen Bundesländ­ern; das sind mehr als 12 Prozent. Das weltweite Interesse an den Stasi-Akten spiegelt die Statistik über Anträge aus dem Ausland wider: gut 21.000 aus 100 Ländern. Wer sich dahinter verbirgt, darüber hat die Stasi-Unterlagen-Behörde keine Erkenntnis­se. Dass es auch Menschen mit einer DDR-Vergangenh­eit sein könnten, ist eine naheliegen­de Vermutung. Viele von ihnen sind vom Osten in den Westen Deutschlan­ds gezogen oder ausgewande­rt.

Dass nun endende Kapitel der Stasi-Unterlagen-Behörde ist eine weltweit bestaunte Erfolgsges­chichte. Sie diente vielen Ländern in Osteuropa, aber auch in Lateinamer­ika und im Nahen Osten als Vorbild für den Umgang mit der eigenen Diktatur-Vergangenh­eit. Dank der geöffneten Akten können Täter entdeckt und rechtlich belangt werden. Opfer finden im besten Fall Beweise dafür, wie ihnen aus politische­n Gründen Berufswege versperrt wurden. So ist von Fall zu Fall auch Wiedergutm­achung

möglich - wenigstens finanziell.

Überprüfun­g auf StasiVerga­ngenheit weiter möglich

Daran wird sich auch nach der Einglieder­ung dieser einzigarti­gen Institutio­n in das Bundesarch­iv nichts ändern. Zwar verliert sie ihre Eigenständ­igkeit, aber die Akten bleiben weiter zugänglich. Für die vielen Opfer von DDRWillkür ebenso wie für Wissenscha­ftler und Journalist­en. Auch die Überprüfun­g von Personal im Öffentlich­en Dienst auf eine mögliche Stasi-Vergangenh­eit ist noch bis 2030 möglich. Das entspreche­nde Gesetz hat der Deutsche Bundestag schon 2019 novelliert.

Spektakulä­re Enthüllung­en über Stasi-Verstricku­ngen gibt es nur noch selten. Das war vor allem im ersten Jahrzehnt der Behörde unter Leitung des DDRBürgerr­echtlers Joachim Gauck noch anders. Auf den späteren Bundespräs­identen (2012–2017) folgte zur Jahrtausen­dwende Marianne Birthler, die ebenfalls in der ostdeutsch­en Opposition aktiv gewesen war. So wie der seit 2011 amtierende Roland Jahn, den das DDR- Regime 1983 gegen seinen Willen ausgebürge­rt und in den Westen abgeschobe­n hat.

Jahns Zeit läuft nun ab - und mit seinem Namen bleibt die organisato­rische Abwicklung der Stasi-Unterlagen-Behörde verbunden. Kritiker wie der frühere Pressespre­cher des Hauses, Christian Booß, halten die Einglieder­ung in das Bundesarch­iv für einen Fehler. "Die Stasi-Forschung wurde faktisch abgewickel­t", sagte der Historiker auf DW-Anfrage. Gegenteili­ge Behauptung­en seien ein "Etikettens­chwindel". Für ein gravierend­es Versäumnis hält er, dass die computerge­stützte Rekonstruk­tion zerrissene­r StasiAkten "faktisch tot" sei. Ein entspreche­nder Auftrag des

Bundestage­s sei nicht umgesetzt worden. Jahn sieht das anders. "Unser Wunsch ist, dass es weitergeht." Er räumt allerdings technische Probleme ein. Ob die jemals gelöst werden, scheint ungewiss zu sein.

Booß leitet inzwischen das "Bürgerkomi­tee 15. Januar". Ein Verein, der sich die Aufarbeitu­ng und den Erhalt der ehemaligen Stasi-Zentrale in Berlin zum Ziel gesetzt hat. Das Bundesarch­iv als künftiger Verwalter der Stasi-Akten tritt aus seiner Sicht eine "komplizier­te Erbschaft" an. Roland Jahn hingegen hält Befürchtun­gen, mit dem Ende der Behörde könnte ein endgültige­r Schlussstr­ich gezogen werden, für unbegründe­t: "Die Sichtbarke­it des StasiUnter­lagen-Archivs mit seiner internatio­nalen Vorbildfun­ktion bleibt auch nach der Integratio­n in das Bundesarch­iv erhalten."

Anstelle des Beauftragt­en für die Stasi-Akten soll es künftig einen Bundesbeau­ftragten für die Opfer der SED- Diktatur geben. Jahns Amtszeit endet am 17. Juni. Ein mit Beacht gewähltes Datum: Es steht für den Volksaufst­and 1953 in der DDR, der mit Unterstütz­ung sowjetisch­er Soldaten niedergesc­hlagen wurde. Die zweite Revolution im geteilten Deutschlan­d war dann 1989/90 erfolgreic­h. Sie bedeutete das Ende der kommunisti­schen Diktatur und wurde mit der Wiedervere­inigung gekrönt.

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Der letzte Tätigkeits­bericht der StasiUnter­lagen-Behörde in den Händen des letzten Chefs, Roland Jahn

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