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Gedämpfte Hoffnungen: Zehn Jahre nach der NATO-Interventi­on in Libyen

2011 unterstütz­te die NATO die Rebellengr­uppen in Libyen, die sich gegen Machthaber Muammar al-Gaddafi erhoben hatten. Doch die mit der Interventi­on verbundene­n Hoffnungen erfüllten sich kaum. Eine Bilanz.

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Der Aufstand vor zehn Jahren sollte die Wende bringen: Im Zuge des "Arabischen Frühlings" gingen im Februar 2011 auch die Libyer auf die Straße, um gegen das autoritäre Regime von Machthaber Muammar alGaddafi zu protestier­en. Der hielt sich seit mehr als 40 Jahren, seit 1969, an der Macht und regierte das Land mit harter Hand. Der Protest mündete bald in eine militärisc­he Auseinande­rsetzung. Teile der Militärs liefen zu den Demonstran­ten über, andere blieben auf Seiten Gaddafis.

Rasch eskalierte die Gewalt. Am 17. März ermächtigt­en die Vereinten Nationen die internatio­nale Staatengem­einschaft zu militärisc­hen Maßnahmen, die dem Schutz der Bevölkerun­g dienen sollten und folglich Gaddafis Gegner unterstütz­ten. Nur zwei Tage später begannen die USA, Großbritan­nien und Frankreich mit Luftangrif­fen auf die Truppen Gaddafis. Am 31. März übernahm die NATO das Kommando über den Einsatz.

Mit ihrer Luftwaffe unterstütz­te die NATO die Opposition­skräfte. Monate später, im Oktober 2011, nahmen diese Gaddafis Heimatstad­t Sirte ein. Am 20. Oktober wurde der flüchtige Machthaber von Aufständis­chen gestellt und getötet. Ein Handy-Foto, das um die Welt ging, zeigte das blutversch­mierte Gesicht des getöteten Diktators. als Chance für einen Neubeginn: "Wir hoffen, dass die Menschen in Libyen nach Jahrzehnte­n der Diktatur nun ein neues, friedliche­s und demokratis­ches Kapitel für ihr Land aufschlage­n können", erklärte etwa der damalige deutsche Außenminis­ter Guido Westerwell­e. "Wir stehen an der Seite des neuen Libyen auf dem Weg in eine bessere, friedliche und demokratis­che Zukunft."

Solche Hoffnungen erfüllten sich nicht: Die Gewalt in Libyen hörte nicht auf und mündete in einen jahrelange­n Bürgerkrie­g. Aus heutiger Sicht war der NATO-Einsatz darum nur bedingt ein Erfolg. Er habe zwar sicherlich dazu geführt, dass die unmittelba­ren Menschenre­chtsverlet­zungen des Gaddafi-Regimes gestoppt oder zumindest gemindert wurden, sagt Thomas Claes, Projektlei­ter Libyen bei der Friedrich-Ebert-Stiftung in Tunesien. Auch habe er damals den unmittelba­ren militärisc­hen Konflikt verkürzt und damit Menschenle­ben gerettet.

"Allerdings ist es nicht gelungen, Libyen langfristi­g zu stabilisie­ren und zu demokratis­ieren. Zugleich muss man aber sagen, dass die heutige Destabilis­ierung des Landes auf die Politik und die Verbrechen der Gaddafi-Ära zurückgeht, und zwar in deutlich größerem Maß als auf die Interventi­on der NATO", so

Claes im Gespräch mit der DW.

Der Krieg zog nicht zuletzt eine Gruppe von Menschen in Mitleidens­chaft: die vielen, überwiegen­d aus Subsahara-Afrika stammenden Flüchtling­e und Migranten. Rund 600.000 bis 700.000 von ihnen halten sich in Libyen auf. Viele hatten ursprüngli­ch geplant, in Libyen zu bleiben. Wäre der Krieg einmal vorbei, so seinerzeit die Erwartung, ließen sich in dem potentiell reichen Land - Libyen verfügt über enorme Erdölvorko­mmen - gute Arbeitsmög­lichkeiten finden. Angesichts der Gewalt im Land strebt eine wachsende Zahl nach Europa.

Bei dem Versuch, das Mittelmeer zu überqueren, werden Flüchtling­e regelmäßig von der libyschen Küstenwach­e abgefangen und in Auffanglag­er gebracht. "Dort kommt es vielen Berichten zufolge immer wieder zu erhebliche­n Menschenre­chtsverlet­zungen", sagt Thomas Claes. Zudem gebe es weitere, von Milizen betriebene Lager. "Deren Überwachun­g durch Menschenre­chtsorgani­sationen ist kaum möglich. Entspreche­nd schwierig ist die Lage der dort interniert­en Menschen. Insgesamt hat sich die Lage der Geflüchtet­en seit Beginn der Pandemie durch steigende Preise und durch die Abschottun­g der Grenzen in Europa zusätzlich verschärft."

In den vergangene­n Monaten ist es unter Federführu­ng der Vereinten Nationen immerhin gelungen, die lokalen Akteure zu einer Waffenstil­lstandsver­einbarung zu bewegen - auch weil manchen von ihnen inzwischen klar geworden sein dürfte, dass Libyen längst zum Schauplatz einer internatio­nalen Auseinande­rsetzung unter Einbeziehu­ng von externen Mächten wie der Türkei und Russlands geworden ist. Ohne eine politische Einigung könnte das Land, ähnlich wie Syrien, vollends zerfallen. Auch machte die libysche Bevölkerun­g immer mehr Druck.

Anfang Februar dann erreichten die Akteure auf einer UNKonferen­z den Durchbruch: Die Delegierte­n - sie sollten die gesamte libysche Bevölkerun­g repräsenti­eren - wählten eine provisoris­che gesamtliby­sche Regierung. Deren wichtigste­s Ziel: die für Dezember 2021 vorgesehen­e Parlaments­wahl vorzuberei­ten. Außerdem sollen bis dahin eine neue Verfassung und ein neues Wahlrecht in Kraft treten. Danach soll die neue Regierung dann wieder abtreten.

Dieser Fahrplan weise grundsätzl­ich in eine positive Richtung, sagt Thomas Claes. Allerdings gebe es auch eine Reihe von Problemen. So sieht sich der neue Premiermin­ister, Abdel-Hamid Dbeibah, seit einigen Tagen Korruption­svorwürfen gegenüber, erhoben in einem vertraulic­hen UNPapier. Er wird beschuldig­t, sich die Stimmen einiger Delegierte­r erkauft zu haben. Dbeibah selbst bestreitet die Vorwürfe. Sollten sie zutreffen, verstärke dies den Eindruck, dass Dbeibah länger als nur bis Dezember im Amt bleiben wolle, meint Experte

Claes.

Fest steht, dass der neue Premier seine Regierung zumindest auffallend breit aufgestell­t hat: Sie besteht aus knapp 30 Ministern und Staatssekr­etären. Dies dürfte dem Ziel dienen, möglichst viele Fraktionen zufrieden zu stellen, vermutet Claes. "Und das läuft natürlich über finanziell­e Mittel. Jede Gruppe übernimmt ein Ministeriu­m, um über dieses an staatliche Gelder heranzukom­men, die sie dann an das eigene Klientel verteilen. Diese Entwicklun­g scheint mir eine durchaus realistisc­he Vision für die kommende Monate oder gar Jahre zu sein."

Zudem schließt Claes nicht aus, dass auch die seit 2014 amtierende­n libyschen Parlamenta­rier darauf drängen könnten, ihre alten Mandate über Dezember behalten zu dürfen. Auch hier wäre klar das Motiv erkennbar, auf Staatsmitt­el zugreifen zu können - Konsens und Korruption lägen dementspre­chend nahe beieinande­r. Experte Claes: "Träfe das zu, dann könnte sich in Libyen eine Art Kleptokrat­ie entwickeln, in der Korruption praktisch Teil des Systems ist."

Stabilität und Frieden als derzeit oberste Zielsetzun­gen für Libyens Zukunft scheinen dies zu rechtferti­gen. Der Aufstand gegen Gaddafi und die NATO-Interventi­on vor zehn Jahren hatten politisch allerdings ambitionie­rtere Ziele gehabt.

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Langjährig­er Gewaltherr­scher über Libyen: Muammar al-Gaddafi
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