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Mein Europa: Wir Rumänen sind gerne mitten im Getümmel - auch beim Impfen

Während in Deutschlan­d die Impfkampag­ne schleppend vorangeht, können im östlichen EU-Land Rumänien auch junge Menschen ohne Vorerkrank­ungen Termine bekommen. Zum Impfen fahren sie manchmal sogar aufs Land.

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Lebensmitt­el waren im kommunisti­schen Rumänien der 1980er Jahre knapp. Weil ich 1983 geboren bin, erinnere ich mich noch an Lebensmitt­elkarten, auf denen einzelne Rationen vermerkt waren, und an lange Warteschla­ngen vor jedem Geschäft, in dem es Ware gab. Ich denke, auch nach der politische­n Wende 1989 verweist der Begriff "Schlange" im Rumänische­n weiterhin auf eine chaotische, drängelnde Menschenma­sse. Die Leute standen nicht ordentlich in Reih und Glied, nicht einer hinter dem anderen; sondern eben Schlange.

Das Schlangest­ehen liegt uns auch heute noch im Blut, genau wie der verzweifel­te Drang, sich mit möglichst vielen Lebensmitt­eln einzudecke­n. Der äußert sich vor allem vor Feiertagen, an denen die Läden geschlosse­n sind. Es gibt sogar Reporter, die live aus der Schlange berichten: über die Wartezeit und den Inhalt der Einkaufswa­gen. Sie sprechen von "den Rumänen", als wären wir eine seltsame Spezies. eigentlich­en Schlange, mit dem Gesicht zur Straße, in einer lächerlich­en und arroganten Haltung - etwa so, wie wenn die Katze keine Lust auf jemanden hat und den Kopf verdreht.

Das Schlangest­ehen auf der Treppe, die zur Türe führt, hat etwas sehr Besonderes. Körperlich ist es zwar unbequem - aber man weiß, man ist fast schon drin, man fühlt schon die Schwingung­en des Raums. Es ist fast geschafft! Doch als ich an jenem Tag endlich direkt vor der Tür stand, sagte der Wachmann, keiner könne mehr hinein, weil die Öffnungsze­iten für den Publikumsv­erkehr fast vorüber seien. Stattdesse­n empfahl er, die Leute sollten es im Internet versuchen - wenn sie sich damit auskennen.

Ich begann zu jammern, vor seiner Nase mit meinen Papieren zu wedeln und zu erklären, wie wichtig es für mich sei, hineinzuge­hen, weil ich den Vertrag meines verstorben­en Großvaters übernehmen müsse. Er hatte wohl Mitleid, ließ mich hinein und verriegelt­e die Tür hinter mir. Ich dachte mir, dass ich auch beim Schlangest­ehen vor 1989 überlebens­fähig gewesen wäre: Wenigstens weiß ich, wie man eine Geschichte erzählt. Mein Großvater ist übrigens seit 15 Jahren tot. Weil ihn seit damals niemand nach seiner Gesundheit gefragt hat, kamen die Rechnungen weiterhin auf seinen Namen.

In Rumänien hat jetzt, nach den ersten beiden Etappen für die priorisier­ten Gruppen, die dritte Phase der Impfkampag­ne begonnen - die für die ganz normale Bevölkerun­g. Schon am Morgen habe ich meinen Namen auf eine Warteliste eingetrage­n, die mich an jene Listen erinnert, die es bis vor kurzem bei den Bürgerämte­rn gab, wenn man einen neuen Personalau­sweis oder Reisepass brauchte. Dort bildeten sich schon im Morgengrau­en lange Schlangen, manchmal sogar schon vor fünf Uhr, und der erste, der den Zaun des Amts erreichte, schrieb mit Kugelschre­iber die Namen der Leute auf, die hinter ihm standen. Wegen der sehr kurzen Öffnungsze­iten war das Gedränge unbeschrei­blich, eine geordnete Schlange kam nie zustande. Manche Leute standen schon nachts dort, um sich um die Liste zu kümmern; man konnte sie bestechen und so den eigenen Namen weiter nach oben schieben lassen.

In der Whatsapp-Gruppe, in der meine Freundinne­n und ich uns austausche­n, war heute besonders viel los. Die Plattform für Terminrese­rvierungen für die Impfung hätte an diesem Morgen online sein sollen, war aber schon am Vorabend kurz offen gewesen, als Testlauf. Viele Leute hatten davon profitiert und bereits Termine ergattert. Am Tag selbst dagegen stürzte die Plattform erst ab, funktionie­rte dann zeitweilig wieder, um dann wieder abzustürze­n. Als ich morgens wach wurde, war in meiner Stadt kein einziger Termin mehr frei; also habe ich mich auf eine Warteliste eingetrage­n. Meine Freundinne­n aus Bukarest riefen einander noch vor sechs Uhr morgens an, um auf der Plattform ihr Glück zu versuchen.

Zwei von ihnen konnten Termine ergattern: im Kulturhaus des Dorfes Olteni, 110 Kilometer von der Hauptstadt entfernt, also fast zwei Stunden Autofahrt. M. wollte eigentlich auch mitfahren, doch ihre Internetve­rbindung war zu langsam, sie konnte in Olteni nichts mehr finden. Also schlug sie mir vor, für die Impfung die Kleinstadt Făurei aufzusuche­n, den einzigen Ort in meinem Landkreis, wo noch etwas frei war. So gerne ich M. auch treffen wollte - diesmal musste ich ihre medizinisc­he Eskapade ablehnen.

Făurei ist 65 Kilometer von meiner Stadt Brăila entfernt. In unserem Land, in dem Distanzen in Zeit gemessen werden, weil die Straßen so schlecht sind, bedeutet das eine Stunde Fahrt in einem langsamen und dreckigen Zug. M. wird drei Stunden brauchen, um aus Bukarest nach Făurei zu kommen, sie wird schon um 5 Uhr morgens abfahren müssen, um ihren Impftermin nicht zu verpassen.

Es wäre vielleicht lustig, nach der Impfung gemeinsam einen Automaten-Kaffee am Bahnhof in Făurei zu trinken. Über so eine Geschichte würden wir uns viele Jahre später amüsieren - vorausgese­tzt, wir kommen psychisch gesund aus dieser Pandemie heraus. Aber ich fürchte, mir fehlt die Energie, um mitten in der Nacht aufzustehe­n, um sicherzuge­hen, etwas nicht zu verpassen, was ich irgendwann einmal ergattern sollte. Also bin ich vielleicht doch nicht überlebens­fähig in der Welt der Schlangen. Denn letztendli­ch ähnelt das Gedränge von heute jenem am Zaun der Behörden, die Personalau­sweise ausstellen. Oder dem Gedränge vor dem Lebensmitt­elladen im Kommunismu­s, wenn es hieß, man könnte dort Orangen finden.

Den restlichen Tag verbrachte ich mit meinen Freundinne­n in unserer Whatsapp-Gruppe, wir teilten Links, Gedanken und Witzchen. In unserer Filterblas­e ist die Impfkampag­ne jetzt das große Thema, wir sprechen viel über die disproport­ionale Aufteilung der Impfdosen und diverse andere Probleme der Kampagne oder amüsieren uns über Geschichte­n von jungen Bukarester­n, die sich im Rentnerclu­b der Kleinstadt Fetești zum Impfen verabreden. Über den Medizintou­rismus, der jetzt beginnen wird. Uns tröstet der Gedanke, dass die Impfkampag­ne in Rumänien zwar noch ruckelt, wir aber insgesamt besser dran sind als viele andere Länder in Europa. Dabei sind wir Rumänen daran gewöhnt, bei allem die Letzten zu sein.

Wir fragten uns, was hinter diesem Getümmel steckt (das letztendli­ch sehr verständli­ch ist, nach einem Jahr der Angst und des Wartens). Unsere Schlussfol­gerung: Wir Rumänen sind gerne mitten drin. Denn eine hektische Schlange ist ein Zeichen für die hohe Qualität der Ware. Wenn sich die Menschen gegenseiti­g auf die Füße treten, kann die Ware gar nicht schlecht sein.

Nach einem Jahr, in dem wir eingesperr­t waren und Parfüm nur für Verabredun­gen auf Zoom aufgetrage­n haben, damit

 ??  ?? Die rumänische Schriftste­llerin und Übersetzer­in Lavinia Braniște wurde 1983 in der Stadt Brăila geboren
Die rumänische Schriftste­llerin und Übersetzer­in Lavinia Braniște wurde 1983 in der Stadt Brăila geboren
 ??  ?? Nach dem Sturz des Kommunismu­s: Rumänen vor einem Supermarkt in der Stadt Sibiu / Hermannsta­dt im Januar 1990
Nach dem Sturz des Kommunismu­s: Rumänen vor einem Supermarkt in der Stadt Sibiu / Hermannsta­dt im Januar 1990
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