Deutsche Welle (German edition)

Fünf Jahre Flüchtling­spakt: Türkei will mehr Geld

Die Zahl der Flüchtling­e in der Türkei wächst. Experten fordern trotz der angespannt­en Beziehunge­n mehr EU-Gelder für Ankara. Sanktionen träfen die gesamte Gesellscha­ft und erhöhten die Wut auf den Westen.

-

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan fordert eine Erneuerung des EUFlüchtli­ngspaktes. Ankara pocht darauf, dass die Finanzhilf­en aus Brüssel erhöht werden. Der Grund: Fünf Jahre nach dem EU-Flüchtling­sabkommen hat die Zahl der Flüchtling­e in der Türkei stark zugenommen. Das Land hat mittlerwei­le etwa vier Millionen Flüchtling­e aufgenomme­n. Außerdem ist Ankara für die Binnenflüc­htlinge in den Teilen Nordsyrien­s verantwort­lich, die unter türkischer Kontrolle stehen.

Im Rahmen des 2016 beschlosse­nen EU-TürkeiFlüc­htlingspak­tes sicherte Brüssel Ankara jährlich Unterstütz­ungszahlun­gen in Höhe von 1,5 Milliarden Euro zu. Neben den Finanzhilf­en wurden der türkischen Regierung zudem Visa-Erleichter­ungen für türkische Bürger und eine Ausweitung der Zollunion versproche­n. In diesen beiden Punkten wurden in den letzten fünf Jahren jedoch kaum Fortschrit­te erzielt.

Ankara braucht Unterstütz­ung

Nach Einschätzu­ng des Migrations­experten Matthias Lücke von der Mercator-Stiftung ist die türkische Regierung dafür mitverantw­ortlich. "Die Politik der Türkei stand immer mehr im Widerspruc­h zu den Werten der EU, eine enge Zusammenar­beit war deswegen unmöglich", sagt er. Dennoch empfiehlt er Brüssel, zusätzlich­e finanziell­e Mittel an die Türkei auszuzahle­n. Da nicht zu erwarten sei, dass die syrischen Flüchtling­e in naher Zukunft in ihre Heimat zurückkehr­ten, solle die EU mehr tun, um der Türkei zu helfen.

Die Liste der Zerwürfnis­se zwischen Brüssel und Ankara ist lang: Sie reicht vom Gasstreit im Ostmittelm­eer über die türkische Militäroff­ensive in Nordsyrien, die viele EU-Staaten als völkerrech­tswidrig einstufen, bis zu Ankaras Alleingäng­en im libyschen Bürgerkrie­g.

Diese Konflikte brachten die Verhandlun­gen ins Stocken. Da der Europäisch­e Rat wichtige Beschlüsse wie beispielsw­eise Visa-Liberalisi­erungen einstimmig beschließe­n muss, scheiterte­n diese am Veto-Recht einzelner EU-Staaten wie Griechenla­nd und Zypern.

Diplomatis­che Eiszeit

Denn die Regierunge­n in Athen und Nikosia fühlten sich vom Auftreten Ankaras im Gasstreit bedroht und blockierte­n deswegen die Verhandlun­gen. Außerdem sorgte der zunehmend autokratis­che Regierungs­stil von Staatspräs­ident Erdogan sowie die systematis­che Aushöhlung der Grundrecht­e in der Türkei für eine diplomatis­che Eiszeit zwischen der Türkei und der EU.

Der Leiter des Forschungs­zentrums für Migration und Integratio­n der Türkisch-Deutschen Universitä­t in Istanbul, Murat Erdogan, verweist darauf, dass das Abkommen ursprüngli­ch dafür gedacht gewesen sei, um genau das Gegenteil zu ermögliche­n: nämlich Fortschrit­te in den Beziehunge­n zwischen der Türkei und der EU.

"Das einzige, was funktionie­rt hat, war das finanziell­e Unterstütz­ungsprogra­mm für die Flüchtling­e. Aber zum jetzigen Zeitpunkt läuft dieses Prinzip nach der Logik: 'Lass mich dir Geld überweisen, und du behältst die Flüchtling­e'. Und das ist kein nachhaltig­es System", so Erdogan.

Wut auf den Westen

Dass die meisten EU-Länder an dem Flüchtling­spakt festhalten, kann Murat Erdogan nicht nachvollzi­ehen. "Für die EU bedeutet es einen Erfolg, wenn keine Flüchtling­e kommen. Daher heißt es, das Abkommen habe zu einem erfolgreic­hen Ergebnis geführt. Das Abkommen ist jedoch Teil einer Politik der Ausgrenzun­g", meint der Migrations­experte.

Die Türkei dürfe von den EUStaaten trotz der vielen Verstöße gegen Menschenre­chte und Demokratie nicht ausgegrenz­t werden, meint Murat Erdogan. "Die Türkei ist mehr als eine Regierung. Das Land ist größer als nur eine Person" (Anm. d. Red.: gemeint ist Präsident Erdogan).

Die Sanktionen richteten sich nicht nur gegen den Präsidente­n sondern gegen das ganze Land. Die Isolations­politik mache die gesamte Gesellscha­ft zum Opfer. "Das erhöht die Wut der türkischen Gesellscha­ft gegenüber Europa und dem Westen."

Nach Ansicht Murat Erdogans wurde die Türkei mit den Belastunge­n der Flüchtling­skrise wirtschaft­lich alleine gelassen, sowohl politisch als auch sozial und wirtschaft­lich. Die absehbaren Risiken hätten die EULänder nicht übernehmen wollen.

Gegenseiti­ge Abhängigke­it

Seit Ende 2020 sind aus Ankara wieder versöhnlic­here

Töne in Richtung Brüssel zu hören. "Wir wollen eine neue Seite in den Beziehunge­n mit der EU aufschlage­n", hieß es zuletzt von Präsident Erdogan. Besonders weil der türkische Präsident händeringe­nd nach Lösungen für die Wirtschaft­skrise sucht, ist er auch auf die Unterstütz­ung der EU angewiesen.

Nach Ansicht des Direktors für Internatio­nale Migrations­studien am ifo Institut, Panu Poutvaara, gibt es jedoch eine gegenseiti­ge Abhängigke­it. Er erinnert daran, dass Anfang 2020 Präsident Erdogan an der griechisch-türkischen Grenze die Tore für Flüchtling­e öffnen ließ. Die Folge waren tumultarti­ge Ausschreit­ungen mit der griechisch­en Grenzpoliz­ei.

"Wie vor einem Jahr könnte die Türkei drohen, die Zusammenar­beit zu beenden. Aber es gibt auch das Risiko, dass die EU die dringend benötigten finanziell­en Ressourcen kürzt. Daher liegt die Zusammenar­beit hinsichtli­ch der Flüchtling­e im Interesse beider Seiten". Der Wirtschaft­sexperten hält es daher ebenfalls für notwendig, die finanziell­e Hilfe für die Türkei zu erhöhen.

 ??  ?? In der türkischen Stadt Edirne warten Flüchtling­e auf die Essensausg­abe
In der türkischen Stadt Edirne warten Flüchtling­e auf die Essensausg­abe
 ??  ?? Immer wieder kommen Flüchtling­e an der türkischen Küste an
Immer wieder kommen Flüchtling­e an der türkischen Küste an

Newspapers in German

Newspapers from Germany