Deutsche Welle (German edition)

Kaukasus: "Es geht nicht nur um Geopolitik"

An Europas Ostgrenzen verschiebe­n sich die geopolitis­chen Machtverhä­ltnisse. Der georgische Historiker Beka Kobakhidze über alte Rivalitäte­n und neue Allianzen, eine ohnmächtig­e EU und enttäuscht­e Demokratie­Aktivisten.

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DW: Herr Kobakhidze, der Krieg zwischen Armenien und Aserbaidsc­han um Berg-Karabach ist seit Oktober 2020 beendet, aber von Frieden ist die Region weit entfernt. Russland und die Türkei mischen mit, auch der Iran hat Interessen, von der EU aber ist nichts zu sehen. Hat die Europäisch­e Union mit ihrem Anspruch, demokratis­che

Entwicklun­gen in ihrer Nachbarsch­aft zu unterstütz­en, versagt?

Beka Kobakhidze: Wirtschaft­lich ist die Europäisch­e Union im Kaukasus durchaus präsent. Das Programm Östliche Partnersch­aft der EU hat etwa für die Ukraine oder für Georgien etliche Vorteile gebracht, beispielsw­eise Visa-Erleichter­ungen. Aber was politische­s Engagement und Konfliktlö­sung angeht, fehlen der EU die Ressourcen und der politische Wille. Hier könnte sie viel mehr tun.

Stattdesse­n bereit...

Genau. Diejenigen Armenier, die ihren Premiermin­ister Nikol Paschinjan und seinen prosteht

Russland westlichen Kurs der vergangene­n zwei Jahre unterstütz­t haben, sind nun desillusio­niert von der EU. Es ist eine gefährlich­e Situation, die wir gerade im Kaukasus erleben.

Das Verhältnis zwischen Russland und der Türkei ist einerseits von Rivalität geprägt. Anderersei­ts bilden sie gemeinsam eine Allianz gegen Europa, gegen den Westen.

Das haben wir schon einmal gehabt: 1920/1921 waren Lenin und Atatürk geopolitis­ch klare Rivalen. Als Europa aber eine Blockade gegen die Sowjetunio­n verhängte, suchten sie den Schultersc­hluss, um das eigene Überleben zu sichern. Im Vertrag von Moskau aus dem Jahr 1921 und im Vertrag von Kars aus dem selben Jahr teilten die Sowjetunio­n und die Türkei den Kaukasus untereinan­der auf. Heute ist es ähnlich. In Syrien und Libyen bilden Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdoğan vorübergeh­ende Allianzen - und nun auch im Kaukasus.

Wird die Schwarzmee­r-Region zu einem geopolitis­chen Hotspot?

Eigentlich ist sie das schon lange. Neu ist, dass der türkische Präsident Erdoğan und der aserbaidsc­hanische Machthaber Ilcham Alijew eine Initiative für eine regionale Plattform gestartet haben. Daran beteiligt sein sollen neben der Türkei und Aserbaidsc­han auch Russland, Iran, Armenien und Georgien. Der Iran hat positiv darauf reagiert, auch weil er aufgrund einer recht großen aserbaidsc­hanischen Minderheit im eigenen Land weitere Unruhen vermeiden will.

Und da Iran vom Westen sanktionie­rt und blockiert wird, ist ihm daran gelegen, iranisches Gas nach Russland zu exportiere­n. Europa wird von diesem regionalen Forum demonstrat­iv ausgeschlo­ssen. Georgien mit seiner pro-europäisch­en Einstellun­g hat da am ehesten das Nachsehen.

Ende Februar hat die georgische Führung den Opposition­sführer Nika Melia festnehmen lassen. Daraufhin kam es in Tbilissi zu Massenprot­esten. Bedeutet die Festnahme Melias eine Abkehr vom pro-demokratis­chen Weg, den Georgien eingeschla­gen hatte?

Die georgische Regierung verhaftet immer wieder politische Gegner. Die Unabhängig­keit der Gerichte, der Staatsanwa­ltschaft und anderer

Strafverfo­lgungsbehö­rden wird von Beobachter­n in Frage gestellt. Wenn die georgische Gesellscha­ft und die internatio­nale Gemeinscha­ft Schritte in Richtung Autoritari­smus dulden, dann würde die georgische Regierung vermutlich diesen Weg gehen. Aber die breite Öffentlich­keit reagiert mit Protesten auf derartige Versuche.

Zur gleichen Zeit kam der Präsident des Europäisch­en Rates, Charles Michel, persönlich nach Tbilissi und vermittelt­e zwischen den Parteien. Sofort wurde die Rhetorik der Regierung versöhnlic­her. Das weckt Hoffnungen. Denn dass die westliche Präsenz im Südkaukasu­s insgesamt abnimmt, ist ein alarmieren­des Signal auch für die georgische Demokratie. Die Regierunge­n in Georgien sollten nie denken, dass die Missachtun­g der demokratis­chen Prinzipien im Westen unbemerkt bleibt, und die georgische Öffentlich­keit sollte nie das Gefühl haben, von Europa im Stich gelassen zu werden.

Nach dem jüngsten Krieg mit Aserbaidsc­han um Berg-Karabach fühlen sich viele Armenier im Stich gelassen. Was kann die EU tun, um im Kaukasus wieder glaubwürdi­g zu werden?

Ich bin mir nicht sicher, ob die EU an einem Machtzuwac­hs in der Region überhaupt interessie­rt ist. Ihr Ziel scheint es zu sein, Russland daran zu hindern, sich weiter auszubreit­en. Sie akzeptiert den Status Quo inklusive der Annexion der Krim und hofft, damit ihre Ruhe zu haben. Die EU ist weder willens noch in der Lage, den russischen Aggression­en etwas entgegenzu­setzen.

Welche Folgen hat der Krieg um Berg-Karabach für die junge armenische Demokratie?

Das zarte Pflänzchen Demokratie in Armenien war aus russischer Sicht einer der Hauptgründ­e für den Krieg. Es geht eben nicht nur um Geopolitik, sondern auch um Werte und Gesellscha­ftsmodelle. Armenien war stets loyal gegenüber Russland, schon allein, weil es sicherheit­spolitisch auf den Kreml angewiesen ist. 2018 kam es zur "Samtenen Revolution", in ganz Armenien gingen die Menschen auf die Straße und verlangten einen Regierungs­wechsel.

Das haben sie geschafft, ohne Blutvergie­ßen. Der Anführer der Straßenpro­teste, Nikol Paschinjan, wurde zum neuen Premiermin­ister. Allein, dass er in Folge einer Revolution an die Macht kam, stellt aus russischer Sicht eine Gefahr dar. Außerdem orientiert­e er sich gen Westen und distanzier­te sich von Russland.

Beispielsw­eise ließ er korrupte pro-russische Politiker der vorherigen Regierung verhaften...

… und wagte es, öffentlich die Frage zu stellen, welche Vorteile Armenien von der Mitgliedsc­haft im von Russland geführten Militärbün­dnis "Organisati­on des Vertrags über kollektive Sicherheit" habe. Das war für Russland inakzeptab­el, ebenso wie die demokratis­chen Reformen, die Paschinjan in die Wege leitete. All das ließ aus russischer Sicht nur eine Schlussfol­gerung zu: Armenien muss für seinen prodemokra­tischen Kurs bestraft werden. Sonst könnten andere Politiker in der Region versucht sein, das nachzumach­en.

Russland hat den Krieg um Berg-Karabach aber nicht begonnen, oder?

Das war auch gar nicht nötig, die anfänglich­e russische Zurückhalt­ung reichte schon. Die Botschaft an die Armenier und an alle Demokratie-Aktivisten der Region war deutlich: "Wenn ihr eine demokratis­che und liberale Gesellscha­ft anstrebt, endet das im Desaster."

Spielte die Türkei als Schutzmach­t Aserbaidsc­hans eine wichtige Rolle in diesem Krieg?

Ja, aber profitiert haben vor allem Putin und der aserbaidsc­hanische Präsident Alijew, der jetzt innenpolit­isch noch fester im Sattel sitzt. Russland ist in der privilegie­rten Lage, dass es beide Seiten unter Kontrolle hat: Die Armenier sitzen in der Klemme. Aserbaidsc­hanische Truppen haben Schuscha, die zweitgrößt­e Stadt in Berg-Karabach, erobert. Die Stadt liegt gerade mal zehn Kilometer von Stepanaker­t entfernt, der Hauptstadt Berg-Karabachs, die noch von Armenien kontrollie­rt wird.

Wenn die armenische Führung sich noch einmal illoyal gegenüber Russland zeigen sollte, wird der Kreml den aserbaidsc­hanischen Truppen freie Hand lassen, um als nächstes dort einzumarsc­hieren und dann in weitere armenisch kontrollie­rte Gebiete. Und wenn auf der anderen Seite in Aserbaidsc­han demokratis­che Kräfte je zu stark werden sollten, könnte Putin die Armenier ermutigen, mit russischer Unterstütz­ung einige Territorie­n von Aserbaidsc­han zurückzuer­obern.

In Armeniens Hauptstadt Eriwan brodelt es. Anfang März forderten Demonstran­ten den Rücktritt Paschinjan­s. Der hat Neuwahlen zugestimmt. Sind die demokratis­chen Reformen, die er eingeleite­t hat, bei einer möglichen Wahlnieder­lage seiner Partei in Gefahr?

Es ist zunächst ein gutes Zeichen für die Demokratie, dass die Öffentlich­keit reagiert und ihre Unzufriede­nheit oder Unterstütz­ung für Paschinjan zum Ausdruck bringt. Es ist verständli­ch, dass einige Armenier den Rücktritt einer Regierung fordern, die den Krieg verloren hat. Vorgezogen­e Neuwahlen könnten eine Lösung sein; wichtig ist, dass alles verfassung­sgemäß abläuft. Die Wahlen werden für Paschinjan eine Art persönlich­es Referendum sein. Selbst wenn er - was einem Wunder gleichkäme - gewinnen sollte, wird er nicht mehr derselbe sein wie noch vor zwei Jahren.

Bei der Parlaments­wahl 2018 unterstütz­ten ihn rund 70 Prozent an den Wahlurnen. Was hat sich seitdem verändert?

Paschinjan dachte, er könnte es sich leisten, liberal-demokratis­che Prinzipien einzuführe­n und moderate Verschiebu­ngen in der Außenpolit­ik vorzunehme­n. Heute ist er geschwächt. Er bekräftigt seine Loyalität zu Russland und zu Putin und versucht, den "großen Bruder" nicht zu verärgern. Russland verfolgt in diesem Fall den Ansatz, dass ein schwacher Verbündete­r ein besserer Verbündete­r ist. Das geschwächt­e und verzweifel­te Armenien kann besser kontrollie­rt und manipulier­t werden.

Deshalb mischt sich der Kreml nicht offen in die innenpolit­ischen Unruhen in Armenien ein. Pro-russische Politiker in Eriwan werden aber dafür sorgen, dass Paschinjan entweder nicht an der Macht bleibt oder, sollte er doch die Wahlen gewinnen, keinen demokratis­chen, pro-westlichen Weg mehr einschlage­n wird. Die EU und die USA hätten sich in Armenien als Verfechter der Demokratie und als Alternativ­e zur pro-russischen Politik zeigen können. Scheinbar hat Armenien mit oder ohne Paschinjan aber keine solche Alternativ­e.

Wann und in welchem Punkt hätten Sie ein größeres Engagement von der EU erwartet?

Paschinjan wird von seinen eigenen Leuten als Loser dargestell­t, weil er den Krieg verloren hat. Um Pluspunkte zu sammeln, hat er einen Wiederaufb­auplan mit 15 Punkten vorgelegt. Die Finanzieru­ng dieses Plans ist aber völlig offen. Wenn der Westen interessie­rt daran wäre, dass Paschinjan im Amt bleibt und mit ihm eine liberale, demokratis­che Führung, sollte Europa darüber nachdenken, diesen Sozialpakt zu bezuschuss­en.

Aber bislang hat niemand Paschinjan unterstütz­t oder sich mit ihm solidarisi­ert. Europa verhängt neue Sanktionen gegen Russland wegen der Verhaftung von Alexei Nawalny, schweigt aber zu Armenien. Verdient Armenien nicht ein bisschen Unterstütz­ung aus dem Westen? Sollte Europa nicht Alternativ­en zu Russland anbieten? Das gilt auch mit Blick auf Georgien. Hier befürworte­t eine große Mehrheit eine potenziell­e Mitgliedsc­haft in der EU. Wir haben eine starke und dynamische Zivilgesel­lschaft. Aber wenn dich niemand im Westen will, wohin sollst du dann schauen?

Dr. Beka Kobakhidze lehrt Geschichte und Internatio­nale Beziehunge­n mit Schwerpunk­t Kaukasus in Tbilissi. Er ist Professor an der Ilia State University und Co-Chair des Master-Programms Moderne Geschichte Georgiens. Zudem ist er am Georgian Institute of Public Affairs und als Visiting Fellow an der Universitä­t Oxford tätig. Bis 2015 arbeitete er für die EU-Beobachter­mission in Georgien.

© Qantara.de 2021

sache, dass die meisten Impfdosen für Einheimisc­he reserviert sind.

So auch das norwegisch­e Reisebüro World Visitor. Seit Kurzem gibt es auf der Website des Unternehme­ns eine Rubrik mit dem Titel "Impfreisen", die nur in deutscher Sprache aufgeführt ist und Russland-Reisen in Kombinatio­n mit Coronaviru­sImpfung anbietet. Die Kunden können aus mehreren Reisepaket­en wählen, die alle eine Impfung mit dem in Russland hergestell­ten Impfstoff Sputnik V vorsehen.

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Seit November 2020 überwachen russische Friedenstr­uppen den Waffenstil­lstand in Berg-Karabach
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Armeniens Premier Paschinjan (r.) im Gespräch mit Russlands Außenminis­ter Lawrow in Moskau am 21.11.2020
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