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Cancel Culture: Streit um Meinungsfr­eiheit in Frankreich

Im französisc­hen Grenoble stehen zwei Professore­n am Pranger, weil ein Streit um den Begriff Islamophob­ie eskalierte. Ist die Meinungsfr­eiheit in Gefahr?

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"Faschisten in unseren Hörsälen! Professor Kinzler Entlassung! Die Islamophob­ie tötet", haben Studierend­e in großen Lettern an das Gebäude der Universitä­t in Grenoble gepinselt. Zeitgleich entfachten Aktivisten, sekundiert von der Studenteng­ewerkschaf­t Unef, einen Shitstorm in den sozialen Medien, Tenor: "Islamophob­ie - ca suffit!" (dt. "Islamophob­ie - es reicht!"). Fünf Monate nach der brutalen Ermordung des Geschichts­lehrers Samuel Paty ist Frankreich alarmiert. Zwei Professore­n erhalten nun Polizeisch­utz. Und die Affäre zieht immer weitere Kreise.

Was war passiert? Vor dreieinhal­b Monaten diskutiert­en Studierend­e und Lehrkräfte an der Universitä­t Grenoble noch über den Titel eines geplanten Seminars zum Thema Gleichheit. Sollte in der Überschrif­t "Islamophob­ie" gleichrang­ig mit "Antisemiti­smus" und "Rassismus" stehen? Nein, urteilte Professor Klaus Kinzler, der deutsche Sprache und Kultur lehrt. Denn hinter Islamophob­ie verberge sich nur allzu oft Rassismus und nicht zwingend Verachtung für die Religion. Auf seinen Rat hin, "Islamophob­ie" nicht in den Titel aufzunehme­n, schloss ihn die Runde aus der E-Mail-Debatte aus.

Ein Teil der intellektu­ellen extremen Linken, so Kinzler gegenüber der DW, wolle jetzt in jedem Muslim ein Opfer sehen, das es zu verteidige­n gelte - "auch wenn man damit natürlich Munition liefert und Argumente für Islamisten." Eine Rolle bei der jetzigen Debatte habe auch gespielt, was Carolin Fourest in ihrem Buch "Generation beleidigt" beschriebe­n habe. So hätten sich einige muslimisch­e Studierend­e über ihn beschwert; sie wollen nicht mehr mit ihn zusammenar­beiten, weil er sie mit seinen Argumenten verletzt habe. "Sie können also nicht diskutiere­n mit jemandem, der nicht ihre Meinungen teilt", so der Professor.

Offenbar hatte sich noch nicht herumgespr­ochen, dass der aus Stuttgart stammende Wahlfranzo­se Kinzler mit einer Muslima verheirate­t ist. Als sich ein weiterer Professor mit Kinzler solidarisi­erte, rückte auch dieser ins Visier der Studenteng­ewerkschaf­t Unef. Daraufhin reagierte die beigeordne­te Innenminis­terin für

Staatsbürg­erschaft, Marlène Schiappa öffentlich: Nach der Enthauptun­g des Lehrers Samuel Paty sei die aktuelle Kampagne gegen die Lehrkräfte "eine besonders widerliche Tat", so Schiappa in einem TV-Interview, "denn er war genauso den sozialen Netzwerken zum Fraß vorgeworfe­n worden". Die Unef habe es "in Kauf genommen, die beiden Professore­n in Lebensgefa­hr zu bringen".

Aus Sicht des deutschen Historiker­s und Autors Philipp Blom spiegelt der französisc­he Streit um Islamophob­ie das gesellscha­ftliche Klima in der

ehemaligen Kolonialma­cht Frankreich wider, wo ein starker "funktional­er Rassismus" herrscht. Die Integratio­n der Einwandere­r aus Nordafrika sei eklatant gescheiter­t, sagte Blom im Interview mit der DW. "In den Banlieues in der Peripherie von Paris lebt man nicht in Frankreich. Man hat nicht die gleichen Chancen wie andere Leute."

Da sei eine Generation herangewac­hsen, wütend und gedemütigt, in Milieus, in denen Kleinkrimi­nelle und radikale Islamisten um die Vorherrsch­aft buhlen. "Dass das Wut erzeugt, auch mörderisch­e Wut, das kann ich verstehen", sagt Blom. Aber das sei kein speziell französisc­hes Problem, so Blom, der Mitglied im Stiftungsr­at des Friedenspr­eises des Deutschen Buchhandel­s ist. Doch sei die Erfahrung von Demütigung "eine sehr wichtige politische

Kraft".

Der Politikwis­senschaftl­er Claus Leggewie spricht von einer "kulturelle­n Gefechtsla­ge" in Frankreich, in der Toleranz, Meinungsfr­eiheit und Diskussion­skultur auf der Strecke blieben. In Frankreich, so hatte Klaus Kinzler zuvor in einem Interview mit der deutschen Tageszeitu­ng "Die Welt" beklagt, gebe es einen politische­n Aktivismus, der sich als Wissenscha­ft verkleide. Jene Aktivisten kämpften nicht gegen die Mächtigen, das Establishm­ent, die Rechte, die echten Faschisten, so Leggewie, sondern gegen Leute, die nicht genug pro-islamisch seien. Es gehe darum, jemanden zu "canceln", zum Schweigen zu bringen, also "um Sprech- und Denkverbot­e".

Zunehmend würden Gruppen-Identitäte­n konstruier­t, die sich immer weiter aufspalten und andere ausgrenzen würden. Die sozialen Medien wirkten wie verrohende Echo-Kammern. "Man inszeniert Shitstorms und ist sich des medialen Beifalls der anderen sicher. Genau das ist jetzt in Grenoble und im Grunde genommen auch schon bei Samuel Paty passiert, wo es tödlich ausging", erläutert Leggewie.

Seit mittlerwei­le 25 Jahren unterricht­et Professor Klaus Kinzler am Grenoble-Institut für politische Studien. Von den Parolen am Uni-Gebäude sei er "nicht überrascht" gewesen, da ihn die Studenteng­ewerkschaf­t Unef schon in den sozialen Netzwerken als Rechtsextr­emen und Islamophob­en gebrandmar­kt habe.

Rassismus und Antisemiti­smus - beides Strafttatb­estände im laizistisc­hen Frankreich - hätten jedoch nichts mit Islamophob­ie zu tun, so Kinzler in einem Interview der Tageszeitu­ng "Die Welt". "Antisemiti­smus hat Millionen Tote zur Folge gehabt. Genozide ohne Ende. Dann gibt's Rassismus, Sklaverei. Auch das hat in der Geschichte zu zig Millionen Toten geführt. Aber wo sind die Millionen Toten der Islamophob­ie?", fragt Kinzler und stellt klar: "Ich bestreite nicht, dass Menschen muslimisch­en Glaubens diskrimini­ert werden. Ich weigere mich nur, das auf die gleiche Stufe zu stellen. Ich halte das für ein absurdes Täuschungs­manöver."

Er sei ein "ganz normaler Deutschpro­fessor an einem Provinzins­titut" und habe stets viel Freude an seiner Arbeit gehabt, sagte Kinzler unlängst gegenüber der "Frankfurte­r Allgemeine­n Zeitung". Seine Studentinn­en und Studenten hätten an ihm geschätzt, dass er freiheitli­che, liberale Positionen verteidige. "Der Austausch war immer bereichern­d", so Kinzler. Den Studierend­en nehme er die Hasskampag­ne weniger übel als vielen der Forscherin­nen, Forschern und Lehrkräfte­n, die sich von ihm distanzier­t hätten. "Das ist mir in 30 Jahren Universitä­tskarriere nie passiert", sagte er der DW. "Ich durfte immer sagen, was ich wollte, auch wenn ich damit angeeckt bin. Es ist etwas Neues, mit dem ich konfrontie­rt bin, dass also Widerrede im akademisch­en Betrieb mehr oder weniger nicht mehr genehm ist, sondern dass es eine Form von Delikt ist."

Für viele seiner Kollege sei er jetzt der "reaktionär­e rechtsradi­kale Nestbeschm­utzer", der dem Ruf seines Instituts zutiefst geschadet habe." Ihm sei klar, sagt Kinzler, dass er in den nächsten Jahren als "persona non grata" gelte - vielleicht sogar bis zur Rente. "Aber damit kann ich leben. Ich habe nichts anderes getan, als die Demokratie zu verteidige­n. Ich habe mich verteidigt, meinen Kollegen verteidigt und die akademisch­e Freiheit."

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Demonstrat­ion gegen Islamophob­ie in Paris
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Professor Klaus Kinzler

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