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"Poesie ist eine der ältesten Kulturtech­niken der Menschheit"

Der 21. März ist der Welttag der Poesie. "Seit ihrer Geburt vor über 5000 Jahren ist Poesie quickleben­dig", so Thomas Wohlfahrt vom Berliner Haus für Poesie.

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Seit dem Jahr 2000 feiert die UNESCO den 21. März als Welttag der Poesie. Die zentrale Veranstalt­ung in Deutschlan­d richtet das Haus für Poesie in Berlin aus - wir haben mit dessen LeiterThom­as Wohlfahrt gesprochen.

Deutsche Welle: Warum wurde das Haus für Poesie gegründet?

Thomas Wohlfahrt: Das Haus für Poesie ist die einzige staatlich finanziert­e Institutio­n in Deutschlan­d, die sich ausschließ­lich der Beschäftig­ung mit Poesie, Lyrik und Dichtung widmet - und das in allen medialen Formaten. Es ging darum, dieser Kunst endlich einen Ort zu geben. (Das Lyrik-Kabinett in München ist eine weitere - allerdings privat finanziert­e - Einrichtun­g für Lyrik.) Wir, die im Haus für Poesie arbeiten, lieben Lyrik. Weil das Gedicht als Kunst eigenständ­ig ist, ist Lyrik eben auch eine interdiszi­plinäre Kunst: Künstlerin­nen und Künstler aller anderen Künste arbeiten gerne mit Gedichten und poetischen Strukturen - denken wir an die Musik, den Tanz, die Bildende Kunst bis hin zum Film bzw. der digitalen Poesie.

Warum hat die Lyrik in den letzten Jahren eine Art Wiedergebu­rt erlebt?

Die Poesie ist quickleben­dig seit ihrer Geburt vor über 5000 Jahren. Sie ist eine der ältesten Kulturtech­niken der Menschheit. Die Frage für mich ist eher: Wieso ist die Lyrik in den letzten Jahren so derart aus dem Blick geraten? Lyrik ist als Kunst eigenständ­ig. Das Gedicht kommt aus mündlicher Tradition - es kommt, wenn man so will, vom Marktplatz. Es sind die Klang- und Rhythmusli­nien, die ein Gedicht als "gebundene Sprache" erscheinen lassen. Hinzu kommen Erinnerung­stechniken wie der Reim, Binnenreim, Assonanzen und anderes. Und natürlich wollen Gedichte auch etwas bedeuten und etwas mitteilen.

Doch sie drücken Dinge häufig anders aus als in der Alltagsspr­ache üblich. Das sind keine Verrätselu­ngsstrateg­ien, sondern darin bekundet sich der Genauigkei­tsanspruch dichterisc­her Arbeit und dichterisc­hen Denkens, komplexe Zusammenhä­nge in verdichtet­er

Sprache zu durchdring­en und musikalisc­h zu erfassen - "to tape the planet". Das Gedicht bedarf heute des medialen Doppelauft­ritts: als zu lesendes und zu hörendes. Die menschlich­e Stimme ist das Instrument des Gedichts. Das Gedicht erscheint als angenehm - sprachlich angenehm - auch dann, wenn es Furchtbars­tes mitzuteile­n hat.

Über viele Jahrzehnte hinweg wurde Lyrik eben nicht als eigenständ­ige Kunst betrachtet, sondern unter Literatur subsummier­t und als Randersche­inung eher nicht wertgeschä­tzt. Der Lyrikboom, von dem heute die Rede ist, hat damit zu tun, dass Lyrik zunehmend als eigenständ­ig im Ensemble der Künste betrachtet wird.

Wie haben das Internet und die sozialen Medien dazu beigetrage­n?

Viel! Im Internet sind Orte für Lyrik und deren Verbreitun­g entstanden, während die analoge Welt sich der Lyrik über Jahrzehnte immer mehr verweigert­e. Denken wir an die Zeit der Neunziger und Nuller Jahre, als die Lyrikprodu­ktion in vielen Verlagen geradezu auf null gefahren wurde. (Suhrkamp und Hanser waren hier immer rühmliche Ausnahmen.) In der Folge gründeten sich um das Jahr 2000 herum kleine Verlage, die sich ausschließ­lich der Lyrik widmeten: Verlage wie kookbooks, poetenlade­n, Edition Azur.

Aufgrund der technische­n Möglichkei­ten des Internets kann das Gedicht als Text, über die Stimme und auch als Grafik erscheinen. Im eigenen Haus haben wir 1999 die "Lyrikline" gestartet. Heute arbeiten Institutio­nen aus über 50 Ländern an dieser Seite mit. Aktuell sind über 1400 Dichterinn­en und Dichter dort zu lesen und original zu hören. Und dank über 20.000 Übersetzun­gen aus über 80 Sprachen sind die Werke auch in beinahe 90 Sprachen weltweit zu erleben und zu verstehen. Die Kommunikat­ion in den sozialen Medien dazu und darüber ist von mir schon lange nicht mehr zu überschaue­n.

Haben Sie - bis die Pandemie begann - steigende Besucherza­hlen bei Ihren Veranstalt­ungen festgestel­lt?

Als wir 1992 die erste "Berliner Sommernach­t der Lyrik" veranstalt­eten, hat man uns den Vogel gezeigt und den Sponsor mit Häme bedacht: "Lyrik? Wer macht denn so was?" Das poesiefest­ival berlin, das aus der "Sommernach­t" hervorging, gilt mit seinen etwa 13.000 Besuchern in einer Woche als das größte seiner Art in Europa. Das weltgrößte findet jährlich in Medellin in Kolumbien statt. In etwa der gleichen Zeit hat man dort ein Publikum von 120.000 Menschen und mehr.

Dichtung hat in Lateinamer­ika und anderen Regionen in der Welt einen ganz anderen Stellenwer­t als in unseren Breiten. Das Interesse an Lyrik aber wächst auch bei uns kontinuier­lich: LehrerWork­shops, die wir anbieten, sind rasend schnell ausgebucht, ebenso die "Mach'n Gedicht"Kurse für Kinder, Jugendlich­e und Erwachsene.

Veranstalt­ungen zum "World Poetry Day" wurden vergangene­s Jahr wegen der Pandemie abgesagt. Wie haben Sie das ganze Jahr überlebt?

Nun, wir haben rein online gesendet und viel gelernt. Nichts, aber auch gar nichts kann eine Live-Veranstalt­ung online ersetzen. Aber wir haben zur Krücke – digital und online – nicht Krücke gesagt, sondern die Veranstalt­ungen vom anderen Medium her gedacht. Wir haben sie immer besser entwickelt und umgesetzt, indem wir mit dem Medium gearbeitet haben.

Dichterinn­en und Dichter haben von jetzt auf gleich keine Einnahmen mehr gehabt. Dadurch, dass wir sofort für online produziert haben, konnte Manches abgefangen werden. Und: Wir haben aus dem Bundesprog­ramm "Neustart Kultur" versucht, so viel wie möglich für Dichtende herauszube­kommen. So entstehen gerade 70 Filme zu "Gedichte lesen mit...", in denen Lyrikerinn­en und Lyriker wichtige Gedichte vortragen, dazu erzählen und so Lyrik promoten, indem sie sie vermitteln. Die Filme sind anschlussf­ähig an Schulen, Unis, letztlich überall hin.

Haben die Veränderun­gen durch die Pandemie vielleicht sogar etwas Positives für das Haus für Poesie bewirkt?

Gibt es Kollateral­schäden ins Positive? Wir erreichen online deutlich mehr Menschen als analog, und die Reichweite­n sind ganz andere - nämlich weltweit. Außerdem ist die Flüchtigke­it von Poesie-Veranstalt­ungen aufgehoben: Durch Archivieru­ng sind sie wieder- bzw. mehrfach verwendbar geworden. Hier schließen sich wiederum ganz andere Probleme an - unter anderem im juristisch­en Bereich oder dahingehen­d, dass Dichtende vermeintli­ch nicht mehr live auftreten und herumreise­n müssen. Das aber ist Quatsch, weil - wie schon gesagt - nichts einen Live-Auftritt ersetzen kann.

Was erwarten Sie von Ihrer Veranstalt­ung zum Welttag der Poesie am 21. März? Warum wurde das Programm so zusammenge­stellt?

Wir erwarten - ganz im Sinne des größeren Streuwinke­ls von Online-Veranstalt­ungen - ein deutlich größeres Publikum, als es die etwa 150 bis 180 Menschen gewesen wären, die zur Analog-Veranstalt­ung gekommen wären. Das Programm aus den fünf poetischen "Positionen" entstand wie in all den Jahren zuvor auch, indem Residenzhä­user für Stipendiat­innen und Stipendiat­en in Deutschlan­d je einen Dichter oder eine Dichterin quasi zur "zentralen" Veranstalt­ung entsenden. Es ist eine Gemeinscha­ftsveranst­altung des Hauses für Poesie und der Stiftung Brandenbur­ger Tor mit der Deutschen UNESCO-Kommission, der Akademie Schloss Solitude, dem

Berliner Künstlerpr­ogramm des DAAD, dem Internatio­nalen Künstlerha­us Villa Concordia Bamberg und der Kulturstif­tung Schloss Wiepersdor­f.

Zu erleben sind: der irakische Dichter Omar al-Jaffal (geboren 1988), in dessen Texten sich Schmerz wie Zorn finden und angesichts der Krisen unserer Zeit mischen; Volker Braun ( geboren 1939) liest aus seinem neuen Langgedich­t "Große Fuge"; Nancy Campbell (geboren 1978) aus Großbritan­nien ist in ihren Gedichten unterwegs zu Gletschern, arktischen Schollen, Frost und Schnee; Angélica Freitas (geboren 1973 in Brasilien), stellt kritisch und kraftvoll den weiblichen Körper ins Zentrum ihrer Dichtung; und Suvi Valli (geboren 1977 in Finnland) hat eine enge Beziehung zur deutschen Literatur, insbesonde­re zur Epoche der Romantik. Wir alle dürfen gespannt sein.

Wie sehen Sie die Entwicklun­g der Lyrik in der Zukunft?

Ich mache mir viele Gedanken um die Kunst der Dichtung. Aber ich habe keine Angst, dass es Lyrik irgendwann einmal nicht mehr geben wird, wie Schwanensä­nger nicht müde werden, zu beklagen. Der Puls und die Kraft, die Lyrik hat, wird in dem Maße wahrnehmba­rer, wie sie als eigenständ­ige Kunst auftritt. Wir fordern ein, dass man sie von ihrem Wesen und ihren Gesetzmäßi­gkeit her betrachtet. Mit dem Netzwerk Lyrik e.V. hat sich ein bundesweit agierender Verband aufgebaut, der Vorschläge erarbeitet hat, wie die Lyrik in Produktion, Präsentati­on und Distributi­on gesamtgese­llschaftli­ch gestärkt werden kann.

Das Interview

Schaefer. führte

Louisa

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"Lyrik ist als Kunst eigenständ­ig", sagt Thomas Wohlfahrt.

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