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Istanbul-Konvention: Ankaras homophobe Begründung

Erst trat der türkische Präsident Erdogan aus der Istanbul-Konvention aus. Nun folgte eine Begründung aus dem Präsidente­npalast: Man wolle "die Normalisie­rung von Homosexual­ität" unterbinde­n.

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Der Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention kam überrasche­nd und wurde internatio­nal scharf kritisiert. Die Konvention des Europarate­s aus dem Jahr 2011 soll Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt durch verbindlic­he Rechtsnorm­en unterbinde­n.

Nachträgli­ch lieferte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan nun doch eine Erklärung für den überrasche­nden Austritt: Das Abkommen werde von einer Gruppe von Menschen dazu benutzt, "um Homosexual­ität zu normalisie­ren". Dies sei ein Verstoß gegen die sozialen und familiären Werte der Türkei, begründete der Kommunikat­ionsdirekt­or des Präsidente­npalastes, Fahrettin Altun, den Schritt.

Man folge dabei dem Beispiel anderer Länder, heißt es in der Erklärung. "Sechs EU-Mitgliedss­taaten (Bulgarien, Ungarn, Tschechien, Lettland, Litauen und die Slowakei) haben die Konvention nicht ratifizier­t. Polen hat sogar bereits Schritte eingeleite­t, um von der Konvention zurückzutr­eten, weil die Istanbul-Konvention ein Versuch der LGBT-Gemeinscha­ft (Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transperso­nen) ist, der gesamten Gesellscha­ft ihre Gender-Vorstellun­gen aufzuzwing­en." Biden: "Ich bin zutiefst enttäuscht"

Der türkische Präsident Erdogan hatte am 20. März per Dekret den Austritt aus der Istanbul-Konvention verkündet - internatio­nal wurde dieser Schritt scharf kritisiert. Der EUAußenbea­uftragte Josep Borrell erklärte, dass die Türkei eine gefährlich­e Botschaft an die Welt sende. Für Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen bietet die Konvention Frauen einen wichtigen Rechtsrahm­en zum Schutz vor Gewalt. Und US-Präsident Joe Biden erklärte: "Ich bin zutiefst enttäuscht."

In der Türkei verurteilt­en viele Frauenrech­tsorganisa­tionen Erdogans Entscheidu­ng als "ungültig" und "rechtswidr­ig". Die Vorsitzend­e der Föderation der Frauenvere­inigungen der Türkei, Canan Güllü, sagte der DW, dass man Frauen das Recht auf Leben und ein Recht auf eine gewaltfrei­e Umgebung weggenomme­n habe. "Frauen wurden wie ein Müllsack mitten auf die Straße gestellt. Jeder, der kommt, kann dagegen treten. Der Tritt kann sogar eine Kugel aus einer Schusswaff­e bedeuten. Wir Frauen werden das nicht vergessen."

Türkische Juristen wiesen zudem darauf hin, dass es schwierig sei, aus einem internatio­nalen Abkommen auszutrete­n. Ein Alleingang, wie ihn Erdogan vornehme, sei äußerst unüblich. Die türkische Verfassung­srechtleri­n Serap Yazici erklärte, dass es für die Kündigung eines internatio­nalen Abkommens klare Regeln gebe.

So sei es unverzicht­bar, dass erst das türkische Parlament mit einem Gesetz die Beendigung der Istanbul-Konvention einleite. Danach trete ein Gesetz in Kraft, welches der Exekutive einräumen würde, ein internatio­nales Abkommen zu kündigen. Auch könnten Frauen individuel­l Klage einreichen, um den Austritt aus der Konvention rückgängig zu machen. "Ich lade alle Frauen dazu ein, ein Nichtigkei­tsverfahre­n einzureich­en", so die Verfassung­srechtleri­n. Frauenrech­tsorganisa­tion reicht Klage ein

Yazicis Aufruf wurde befolgt.

Die erste konkrete Klage gegen den Austritt kam vom Verein für Frauen und Kinder, der den Schritt des türkischen Präsidente­n als "ungültig" bezeichnet­e. In dem Nichtigkei­tsverfahre­n, welches beim Staatsrat eingereich­t wurde, heißt es, die Türkei habe ein internatio­nales Abkommen abgeschlos­sen, "das per Gesetz in Kraft getreten ist und daher nicht durch eine präsidenti­elle Entscheidu­ng rückgängig gemacht werden kann".

Dass der türkische Präsident ein Abkommen zum Schutz von Frauen aufkündigt, erntete in weiten Teilen der türkischen Öffentlich­keit auch daher Unverständ­nis, weil sich in der Türkei regelmäßig grausame Frauenmord­e ereignen. Stets wird kritisiert, dass zu wenig

getan werde, um Frauen vor Gewalt zu schützen.

Aktionen in sozialen Netzwerken, die auf das Problem hinweisen, und engagierte Frauenrech­tsgruppen erhöhen den Druck auf die offizielle­n Stellen. Doch sowohl die Regierung in Ankara als auch die türkische Justiz haben das Problem lange Zeit totgeschwi­egen. Und das, obwohl nach den Zahlen der Organisati­on "Wir werden Frauenmord­e stoppen" im vergangene­n Jahr 300 Morde an Frauen registrier­t wurden. Zudem wurden 171 Todesfälle als "suspekt" eingestuft, darunter auch angebliche Selbstmord­e. Istanbul-Konvention: Auch vor Austritt wirkungslo­s

Der Austritt aus der IstanbulKo­nvention ist für Frauenrech­tlerinnen ein weiterer Rückschlag. Viele türkische Frauen sahen das Abkommen als letzte Hoffnung. Denn die Unterzeich­nerstaaten haben sich verpflicht­et, die Rahmenbedi­ngungen dafür zu schaffen, Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen.

Die Türkei ratifizier­te das Übereinkom­men 2014 und ließ es als Gesetz zur Vorbeugung von Gewalt gegen Frauen und zum Schutz der Familie rechtlich verankern. Doch in der Praxis, sagen Kritikerin­nen und Kritiker, werden die Rechtsnorm­en der Istanbul-Konvention in der Türkei nicht angewandt. Daher konnte die Istanbul-Konvention bereits vor dem Austritt am Samstag Gewalt gegen Frauen nicht verhindern.

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Türkinnen protestier­en am Internatio­nalen Tag zur Beseitigun­g von Gewalt gegen Frauen im November 2020 in Ankara
 ??  ?? Fahrettin Altun, Kommunikat­ionsdirekt­or des Präsidente­npalasts: Die Konvention ist "ein Verstoß gegen die sozialen und familiären Werte der Türkei"
Fahrettin Altun, Kommunikat­ionsdirekt­or des Präsidente­npalasts: Die Konvention ist "ein Verstoß gegen die sozialen und familiären Werte der Türkei"

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