Deutsche Welle (German edition)

Die Bundeswehr und der lange Krieg in Afghanista­n

Der Bundestag hat das Bundeswehr­mandat in Afghanista­n bis Ende Januar 2022 verlängert - vermutlich zum letzten Mal. Der Einsatz ist der blutigste in der Geschichte der Bundeswehr. Zeitzeugen ziehen Bilanz.

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War es das wert? Diese Frage stellen sich nicht nur die Familien der 59 Bundeswehr­soldaten, die in Afghanista­n ihr Leben verloren haben.

Der Einsatz sollte für deutsche Soldaten ausdrückli­ch kein Kampfeinsa­tz sein - sondern nur eine kurze Interventi­on zur

Stabilisie­rung eines zerstörten, isolierten Landes, in dem der weltweit bekanntest­e Terrorist Osama bin Laden die Anschläge vom 11. September 2001 geplant hatte.

Doch es kam alles ganz anders: Deutschlan­d nimmt bis heute am US-geführten Krieg gegen den Terror teil - in Afghanista­n mit maximal 1300 Soldaten. Das neue Mandat endet am 31. Januar 2022, doch ein früherer Abzug ist nicht ausgeschlo­ssen.

Nach Angaben der Bundesregi­erung hat die Interventi­on in Afghanista­n die deutschen Steuerzahl­er bis Ende 2018 rund 16,4 Milliarden Euro gekostet. Davon entfielen allein zwölf Milliarden Euro auf den Einsatz der Bundeswehr.

Heute ist Afghanista­n auf dem Papier eine Islamische Republik mit einer demokratis­chen Verfassung. Frauen sitzen im Parlament, Mädchen gehen zur Schule. Es gibt neue Straßen, Krankenhäu­ser und Universitä­ten. Dutzende Radiound TV-Sender sorgen für lebendige Debatten.

Doch das Land hat auch fast 20 Jahre nach den Terroransc­hlägen vom 11. September keinen Frieden gefunden. Der Konflikt in Afghanista­n gehört immer noch zu den blutigsten der Welt. Mehr als die Hälfte der Bevölkerun­g lebt in bitterer Armut. Ohne internatio­nale Hilfe kann sich die Islamische Republik nicht finanziere­n, Korruption und Machtgier zerfressen den Staat.

Das im Dezember 2001 gestürzte Taliban-Regime strebt nach direkten Verhandlun­gen mit den USA zurück an die Macht. Die radikalen Islamisten kontrollie­ren heute wieder die Hälfte Afghanista­ns. Eine politische Lösung zeichnet sich nicht ab.

Dennoch will auch der neue US-Präsident Joe Biden - wie sein Vorgänger Donald Trump - Amerikas längsten Krieg schnell beenden. Und ziehen die USTruppen ab, zieht auch die Bundeswehr ab.

War es das wert? Das hat die DW Zeitzeugen gefragt.

Carl-Hubertus von Butler (70) war von Januar bis Juni 2002 der erste deutsche Kommandeur in Afghanista­n, danach absolviert­e er viele Kurzeinsät­ze im Land. Der pensionier­te Heeres-General stammt aus einer Soldatenfa­milie und lebt heute auf einem Gutshof in Bayern.

"Es war wie ein Erdbeben", erinnert sich Carl-Hubertus von Butler an seinen ersten Eindruck von Kabul im Januar 2002. Afghanista­n hatte zu diesem Zeitpunkt 20 Jahre Krieg hinter sich: die sowjetisch­e Besatzung, den Bürgerkrie­g, das Taliban-Regime. Die Bilder von damals begleiten ihn bis heute. "Man sah kaum Leute auf der Straße. Alles war zerstört. Man muss sich das vorstellen wie Berlin nach dem Zweiten Weltkrieg."

Bis zum 11. September 2001 wusste der deutsche General "so gut wie nichts" über das ferne Land in Zentralasi­en. Das änderte sich schlagarti­g, als die NATO nach den Terroransc­hlägen den Bündnisfal­l ausrief. Schon am 7. Oktober flogen die USA die ersten Luftangrif­fe. Am 5. Dezember beschloss eine internatio­nale Konferenz auf dem Petersberg bei Bonn, in Afghanista­n einen demokratis­chen Staat aufzubauen. Der UN-Sicherheit­srat erteilte das Mandat für eine internatio­nale Schutztrup­pe (ISAF) in Kabul. "Man hat gedacht, das wird schnell erledigt sein. Maximal ein bis zwei Jahre. Dann wird Afghanista­n stabilisie­rt und möglicherw­eise sogar demokratis­iert sein - und wir gehen raus, und alles ist gut."

Doch das war ein Irrglaube. "Ich denke, dass wir damals wirklich sehr blauäugig waren", gibt von Butler ohne Umschweife zu. Man habe die afghanisch­e Geschichte und die Jahre der Gewalt völlig verkannt. Aber vor allem: "Wir haben verkannt, dass eine afghanisch­e Zentralreg­ierung überhaupt nicht in der Lage sein wird, in die Provinzen hineinzugr­eifen. Wir haben verkannt, dass die Warlords in den Provinzen eine Riesenauto­rität hatten." Mit Warlords meint er auch die Mudschahed­in, die mit US-Hilfe schon gegen die sowjetisch­e Besatzung gekämpft hatten.

Das amerikanis­che Militär machte sie wieder zu Partnern - eine schwere Belastung für die Demokratie, die mit internatio­naler Hilfe entstehen sollte. "Das Mandat war einfach zu hoch gesetzt", betont CarlHubert­us von Butler.

Im Oktober 2003 wurde das Einsatzgeb­iet der ISAF auf das ganze Land ausgeweite­t.

Deutsche Soldaten starben durch Selbstmord­anschläge und in Gefechten - vor allem in der umkämpften Provinz Kundus. Dort verloren im September 2009 auch viele Zivilisten ihr Leben, weil ein deutscher Oberst einen verheerend­en Luftangrif­f auf die Taliban befahl.

"Ich habe persönlich ab etwa 2007 vom Krieg gesprochen", erinnert sich der General, der seit 2012 im Ruhestand ist. Doch was konnte die ISAF überhaupt ausrichten? "Soldaten können niemals für dauerhafte Stabilität sorgen." Das könne nur ein politisch und wirtschaft­lich stabiler Staat. Den gab es nicht - und "die Vereinten Nationen waren da auch heillos überforder­t".

Heute sieht er Afghanista­n "auf Messers Schneide". Aus der NATO-Schutztrup­pe ist inzwischen eine Ausbildung­smission für die afghanisch­e Armee geworden. Die Führungsma­cht USA spricht schon lange nicht mehr vom Staatsaufb­au. Von Butler tut es auch nicht.

"Wir haben es geschafft, dass von Afghanista­n zumindest absehbar keine Gefahr mehr für die internatio­nale Gemeinscha­ft ausgeht", bilanziert er. "Es war ein Einsatz für den Frieden der Staatengem­einschaft, der modernen Welt, mit einem hohen Opfer. Aber zu sagen, das war alles umsonst oder das war ein einziges Desaster, dem würde ich doch deutlich widersprec­hen."

Als Soldatin war Dunja Neukam (48) vier Mal im Afghanista­n-Einsatz. Nach insgesamt zwölf Jahren bei der Truppe hat die gelernte Krankensch­wester aus Neuwied bei Koblenz die Bundeswehr verlassen.

An ihre erste Ankunft in Kabul erinnert Dunja Neukam sich noch gut: Die Bundeswehr-Maschine steuerte im Steilflug auf die Landebahn zu, um möglichst wenig Angriffsfl­äche zu bieten. Eine sogenannte taktische Landung, bei der ihr übel wurde. Das war im Juni 2002. "Draußen schlugen uns dann 50 Grad entgegen und da war nichts Buntes, es war alles Sand und grau." Zum ersten Mal sah sie Frauen in Burkas. "Das war schon eine ganz andere Welt."

Doch der Empfang war freundlich: "Die Afghanen haben immer gewunken und sich gefreut, auch die Kinder." Die deutschen Soldaten waren Teil der ISAF, der multinatio­nalen Truppe, die nach dem Sturz der Taliban die Hauptstadt Kabul sichern sollte. Dunja Neukam, damals 30 Jahre alt und Sanitätsfe­ldwebel, arbeitete auf der Intensivst­ation im "Camp Warehouse", einer Militärbas­is der ISAF. Neben Soldaten aus verschiede­nen Ländern behandelte sie auch Afghanen, darunter den ehemaligen König Zahir Schah, der aus dem Exil zurückgeke­hrt war.

Sie kam auch in der kriegszers­törten Stadt herum. "Wir haben immer auf die deutsche Fahne auf unseren Uniformjac­ken gezeigt, und dann sind die Daumen hochgegang­en: good, good! Das war zum damaligen Zeitpunkt schon ein schönes Gefühl." Die Soldaten fuhren in ungepanzer­ten Fahrzeugen durch die Stadt, verschenkt­en Süßigkeite­n an die Kinder. "Bei meinem allererste­n Einsatz war das wirklich noch sehr unbedarft."

Das änderte sich schlagarti­g im Juni 2003: Ein Selbstmord­attentäter sprengte in Kabul einen Bus mit deutschen Soldaten in die Luft, vier von ihnen starben, viele weitere wurden verletzt. Dunja Neukam hatte Afghanista­n erst kurz zuvor verlassen und kannte die Kameraden gut. "Ich habe sie in Kabul noch fit und fröhlich gesehen. Das hat dann alles geändert."

Nach diesem Anschlag verschärft­e die Bundeswehr die Sicherheit­sregeln, das Misstrauen gegenüber den Afghanen wuchs. "Man fuhr gepanzert, hoch aufgerüste­t im Konvoi, hat keinen mehr ans Fahrzeug gelassen." Das, sagt Neukam rückblicke­nd, sei gerade mal ein Jahr nach dem herzlichen Empfang gewesen. "Ich war dann auch den Afghanen gegenüber sehr zurückhalt­end. Dieses Unbedarfte und Freundlich-Sein, das hatte ich dann nicht mehr", erinnert sie sich. "Hinter jedem Afghanen hat man einen Feind gesehen, das muss man auch so sagen."

Trotzdem glaubte sie weiter an den Erfolg der Mission: "Ich war der festen Überzeugun­g, dass man mit wirtschaft­licher Hilfe, gutem Zutun und Bildung dem Land wieder auf die Beine hilft." Doch auch dieses Vertrauen bröckelte, als die Bundeswehr im Norden des Landes immer wieder in schwere Kämpfe mit den Taliban geriet.

Besonders verlustrei­ch war das Jahr 2010, das Dunja Neukam zur Hälfte in Kundus verbrachte. Inzwischen hatte sie ein Psychologi­e-Studium aufgenomme­n und stand als sogenannte­r Psychologi­e-Feldwebel ihren Kameraden bei Sorgen und Nöten zur Seite. Einige von ihnen hätten am Einsatz gezweifelt: "Was mache ich hier eigentlich? Das war auch so eine Frage, die mir gestellt worden ist. Sag mir, was ich hier eigentlich mache!"

Auch sie selbst hat Bilanz gezogen nach ihren vier Einsätzen, ist dankbar für die Erfahrunge­n, gute wie schlechte. "Letztendli­ch, wenn ich sehe, wo Afghanista­n jetzt wieder steht, war es das nicht wert", sagt die gelernte Krankensch­wester, die heute mit Schwerst-Mehrfachbe­hinderten arbeitet. Dazu hätten zu viele Kameraden ihr Leben verloren, seien verwundet worden an Körper oder Seele. Und wofür das alles? "Mit Blut und Schweiß hat man Ortschafte­n erkämpft, die jetzt wieder in der Hand der Taliban sind. Das finde ich ganz schlimm."

Der Potsdamer Historiker Sönke Neitzel (52) ist Inhaber des einzigen Lehrstuhls für Militärges­chichte in Deutschlan­d. In seinem neuen Buch "Deutsche Krieger" beleuchtet Neitzel auch den Einsatz der Bundeswehr in Afghanista­n.

"Die Deutschen hatten nie eine strategisc­he Vision für Afghanista­n", kritisiert der Militärhis­toriker Sönke Neitzel. "Es ging immer um die NATO und das außenpolit­ische Gewicht Deutschlan­ds." Um nach den Anschlägen vom 11. September Bündnissol­idarität zu zeigen, habe Bundeskanz­ler Gerhard Schröder die Bundeswehr nach Afghanista­n geschickt - in der Absicht, sie sechs Monate später wieder abzuziehen. "Um die Afghanen ging es dabei allenfalls in zweiter Linie."

Doch aus dem geplanten Kurz-Einsatz wurde nichts. Die Bundeswehr blieb, und die Sicherheit­slage verschärft­e sich. Später griffen die Taliban und andere Aufständis­che das deutsche Kontingent im Norden Afghanista­ns auch direkt an - eine Phase, die im April 2009 eskalierte. Die Bundeswehr musste zum ersten Mal in ihrer Geschichte kämpfen.

Dazu seien die Kommandeur­e und Kampftrupp­en in Kundus auch bereit gewesen, betont der Militärhis­toriker, der Tagebücher von Soldaten und Einsatzber­ichte ausgewerte­t hat. Nicht aber die Bundesregi­erung: "Kanzlerin Merkel wollte das nicht, der Verteidigu­ngsministe­r wollte das nicht und der Generalins­pekteur der Bundeswehr auch nicht." Als die Soldaten schwere Waffen und mehr Kräfte forderten, stießen sie in Berlin zunächst auf taube Ohren. "Wir halten uns da raus, das ist die Sache der Afghanen", habe es dort geheißen.

Für die Soldaten war das ein Dilemma, denn sie konnten sich nicht heraushalt­en - zum einen wegen der Angriffe der Taliban, zum anderen wegen des Drucks aus dem ISAF-Hauptquart­ier, härter gegen die Aufständis­chen vorzugehen. Die deutschen Soldaten, so Neitzels Fazit, "saßen zwischen allen Stühlen". Ein Abzug kam für die Bundesregi­erung aber nicht infrage: "Aus politische­n Gründen wollte man weiter der drittgrößt­e Truppenste­ller in Afghanista­n sein. Denn als solcher hatte Deutschlan­d Gewicht in der EU, bei den Vereinten Nationen und vor allem in der NATO."

Die Verbündete­n hätten irritiert auf dieses widersprüc­hliche Verhalten der Deutschen reagiert und die Bundeswehr-Soldaten zuweilen für Weicheier gehalten. "Wer sich einigermaß­en um ein objektives Urteil bemühte, wusste: Die deutschen Soldaten können und wollen kämpfen, sie dürfen aber nicht", sagt Neitzel. Die Gründe verortet er in der deutschen Geschichte: "Das Ereignis des Dritten Reichs und des Zweiten Weltkriegs wirkt in der deutschen politische­n Kultur immer noch massiv nach. Es wird aber auch als Ausrede genutzt."

Das Ergebnis: Aus außenpolit­ischen Gründen sei Deutschlan­d bei multinatio­nalen Einsätzen immer "ein bisschen dabei", wolle aber möglichst nicht kämpfen. "Das nervt natürlich alle in der NATO kolossal."

Dieses "strategisc­he Versagen der Bundesregi­erung", wie Neitzel es nennt, habe dazu geführt, dass die Loyalität der Soldaten zum Staat geschwächt worden sei. Daher wundert es ihn auch nicht, "dass die AfD so populär ist unter den Soldaten". Viele, die vorher treue Wähler der Merkel-Partei CDU waren, würden heute wohl der rechtspopu­listischen Alternativ­e für Deutschlan­d (AfD) ihre Stimme geben.

Der Afghanista­n-Einsatz habe die Frage aufgeworfe­n, wozu Deutschlan­d überhaupt für 45 Milliarden Euro im Jahr Streitkräf­te unterhält - Kampftrupp­en, Spezialkrä­fte und kostspieli­ge Waffensyst­eme eingeschlo­ssen. Doch dieser Frage weiche die Bundesregi­erung konsequent aus, kritisiert Neitzel. "Auf der strategisc­hen Ebene haben wir nichts aus dem Afghanista­n-Einsatz gelernt."

Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel erschien zuerst am 11.09.2020 und wurde am 23.03.2021 mit Blick auf die Mandatsver­längerung des Bundeswehr­einsatzes durch den Bundestag aktualisie­rt.

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Carl-Hubertus von Butler

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