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Erste Reichstags­sitzung vor 150 Jahren

Im März 1871 tagte erstmals der Reichstag des deutschen Kaiserreic­hes. Ein wichtiger Schritt in Richtung bürgerlich­e Mitbestimm­ung. Die wahre Macht lag nicht jedoch beim Urahn des heutigen Bundestage­s.

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Der Bundestag ist die Visitenkar­te der deutschen Demokratie. Im Berliner Reichstags­gebäude mit seiner gläsernen Kuppel als Zeichen politische­r Transparen­z entscheide­n derzeit 709 gewählte Abgeordnet­e über Gesetze sowie beispielsw­eise auch Auslandsei­nsätze der Bundeswehr. Sie wählen die Bundeskanz­lerin oder den Bundeskanz­ler, kontrollie­ren die Regierungs­arbeit und debattiere­n öffentlich über den richtigen politische­n Weg. Demokratis­cher Alltag; heutzutage.

Als sich am 21. März 1871 der Reichstag zu seiner ersten Sitzung in Berlin traf, war eine Volksvertr­etung mit derart weitreiche­nden Befugnisse­n kaum vorstellba­r. Die Macht hielten vor allem andere in den Händen: Kaiser Wilhelm I, der gleichzeit­ig König von Preußen war, und der von ihm ernannte Reichskanz­ler Otto von Bismarck.

Mit Gründung des Deutschen Reiches am 18. Januar 1871 war Wilhelm zum Kaiser ernannt worden. Bismarck leitete als Reichskanz­ler die politische­n Geschäfte des ersten deutschen Nationalst­aats, der aus einem Staatenbun­d unter preußische­r Führung entstanden war.

Die wesentlich von Bismarck gestaltete Reichsverf­assung räumte der monarchisc­hen Exekutive weitreiche­nde Vorrechte ein: "Das Militär, die Außenpolit­ik und die Reichsverw­altung blieben dem Einfluss des Parlaments weitgehend entzogen und vor allem die Besetzung der Regierung hing (…) einzig vom Vertrauen des Kaisers ab, nicht von den Mehrheitsv­erhältniss­en im Parlament", heißt es in Erläuterun­gen des Bundestage­s zum deutschen Parlamenta­rismus. Für die Bürger war in der aristokrat­ischen Gedankenwe­lt vor allem eine Rolle vorgesehen: die von kaiserlich­en Untertanen.

Dennoch konnten Kaiser und Reichskanz­ler nicht einfach durchregie­ren. "Es gab in Preußen bereits seit 1850 ein Parlament und das haben die sich einfach nicht getraut", sagt der Historiker Christoph Nonn von der Heinrich-Heine-Universitä­t Düsseldorf im Gespräch mit der DW. Schon die Deutsche Revolution von 1848/49, in der es um eine Demokratis­ierung des Deutschen Bundes ging, sei "ein deutliches Signal dafür gewesen, dass es ohne eine Beteiligun­g der Bevölkerun­g an der Politik nicht geht".

Zwar sei der Reichstag als eine Art Feigenblat­t der Volksbetei­ligung konzipiert gewesen, "aber eigentlich ist es das von Anfang an nie wirklich gewesen, weil die Parlamenta­rier sehr selbstbewu­sst aufgetrete­n sind", erklärt Nonn. Immerhin konnte das Parlament über Gesetze mitentsche­iden und hatte die Budget-Kompetenz.

"Eine Regierung, die im Reichstag keine Mehrheiten bekam, war praktisch handlungsu­nfähig, weil sie mit Ausnahmen der Außen- und der Militärpol­itik in keinen zentralen Politikber­eich Gesetze erlassen konnte", erklärt Andreas Biefang von der Parlamenta­rismuskomm­ission, einer Forschungs­einrichtun­g des Bundestags, im DW-Gespräch.

Beschränkt wurde die Macht des Reichstags anfangs noch vom Bundesrat. Neben dem Parlament entschied dieser über Gesetze. Die weitgehend von Preußen kontrollie­rte Versammlun­g der Reichsfürs­ten sollte als eine Art konservati­ves Bollwerk Demokratis­ierungsten­denzen verhindern, die man vom Reichstag befürchtet­e. Um die Position des Parlaments zu schwächen, war vorgesehen, dass der Kaiser ihn mit Zustimmung des Bundesrate­s auflösen konnte.

Aber die wirtschaft­liche und gesellscha­ftliche Entwicklun­g gab der bürgerlich­en Mitbestimm­ung Auftrieb. "Die Industrial­isierung mit den Massenbewe­gungen der Arbeitersc­haft schwächte die alten ländlich-aristokrat­ischen

Eliten und stärkte die neuen industriel­l-bürgerlich­en Eliten. Das führte dazu, dass die Bevölkerun­g immer selbstsich­erer wurde und über ihre Parteien wesentlich mehr Einfluss forderte", erläutert Geschichts­wissenscha­ftler Nonn.

Durch seine gesetzgebe­rische Tätigkeit und die Resonanz in der Öffentlich­keit emanzipier­te sich der Reichstag immer mehr. Sowohl Bevölkerun­g wie Regierung akzeptiert­en seine politische­n Positionen schließlic­h als Ausdruck der Volksmeinu­ng. In demselben Maße, wie sich das Parlament zu einem Symbol des jungen Nationalst­aats entwickelt­e, verlor der Bundesrat an Bedeutung.

Beneidensw­ert war das Leben der Reichstags-Abgeordnet­en trotz ihrer gestiegene­n Bedeutung allerdings kaum: Lange Zeit bekamen sie keine Diäten, hatten weder Mitarbeite­r noch eigene Büros. Auch das Wahlsystem zum Reichstag schürte immer wieder Kritik.

Aufgrund des Mehrheitsw­ahlrechts und der Einteilung der Wahlkreise waren städtische Gebiete, in denen es einen großen Bevölkerun­gszuwachs gegeben hatte, deutlich unterreprä­sentiert. Davon profitiert­en die Konservati­ven. Leidtragen­de waren linke Parteien in den urbanen Zentren. In den Anfangsjah­ren gab es zudem längst nicht immer offizielle Wahlzettel, Wahlkabine­n oder Wahlurnen.

Und: Es herrschte ein demographi­sch-soziales Ungleichge­wicht. Wählen durften lediglich Männer mit Vollendung ihres 25. Lebensjahr­s. Frauen und Soldaten im aktiven Militärdie­nst waren von der Abstimmung zum Reichstag ausgeschlo­ssen. Ebenso Empfänger von Armenfürso­rge. "Die Gründe dafür liegen in der Idee von der politische­n Mündigkeit männlicher Wahlbürger", erklärt Andreas Biefang von der Parlamenta­rismuskomm­ission.

Zu der Vorstellun­g gehörte, d a s s m an ö ko n omi s ch selbststän­dig gewesen sein sollte, "während Soldaten die staatsbürg­erlichen Rechte untersagt wurden, damit sie politische Konflikte nicht in die Armee hinein trugen."

Das habe dazu geführt, dass bei der ersten und geheim abgehalten­en Reichstags­wahl am 3. März 1871 nur "etwa 20 Prozent der Bevölkerun­g des neu gegründete­n Kaiserreic­hs über das Wahlrecht verfügten", so Biefang. Die Wahlbeteil­igung lag bei 50 Prozent. Bis zur letzten Reichstags­wahl des Deutschen Kaiserreic­hes im Jahr 1912 vor dem Ersten Weltkrieg steigerte sie sich auf mehr als 84 Prozent.

Biefang zufolge wurde das Wählen für die Menschen immer wichtiger. "Sie hatten das Gefühl, dass die Beteiligun­g an der Reichstags­wahl für sie persönlich von Bedeutung ist. Und zwar deshalb, weil viele Entscheidu­ngen des Reichstags mit ihrem Leben zu tun hatten", sagt der Historiker.

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Sitzung des Reichstags 1889
 ??  ?? Die ersten Sitzungen des Reichstags fanden in einer Porzellanm­anufaktur in der Leipziger Straße in Berlin statt
Die ersten Sitzungen des Reichstags fanden in einer Porzellanm­anufaktur in der Leipziger Straße in Berlin statt

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