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Pflege auf der Intensivst­ation: "Du tust alles, es ist nicht genug"

Andrea Krautkräme­r pflegt Schwerstkr­anke mit und ohne Corona-Infektion: Sie überwacht, berührt, kämpft mit um jedes Leben. Die DW hat die Intensivpf­legerin begleitet.

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5.45 Uhr: Gegen vier ging der Wecker. In der Pandemie schläft sie nicht mehr so gut, sagt sie. Jetzt betritt Andrea Krautkräme­r (54) das Krankenhau­s Marienhof in Koblenz. Ihr Ziel im 2. Stock: die Intensivst­ation.

Seit über 30 Jahren arbeitet sie als Intensivpf­legefachkr­aft, mittlerwei­le in Teilzeit. Angesichts der steigenden physischen und psychische­n Belastunge­n will sie nicht mehr Vollzeit arbeiten, sagt sie, betont aber: "Ich liebe meinen Beruf!" Im Umkleidera­um zieht sie die blaue Intensivkl­eidung an.

6.00 Uhr: Der große Tresen im Zentrum der Station liegt noch im Halbdunkel. Vom Flur aus sieht man die Patienten hinter großen Glasscheib­en liegen. 11 von 12 Intensivbe­tten für schwere Fälle sind belegt. Es gibt drei COVID-19-Patienten.

"Das nackte Überleben"

Weihnachte­n war die Belastung so hoch, erinnert sich Andrea Krautkräme­r, wie sie es nie zuvor erlebt hat: An manchen Tagen ging es "ums nackte Überleben", nur die medizinisc­he Grundverso­rgung war möglich. Wenn das immer so wäre, "dann wäre ich nicht mehr hier".

Im März 2021 gibt es weniger Covid- Patienten. Die Betten füllen sich aber auch durch Notfallpat­ienten mit Herzinfark­t oder Schlaganfa­ll und weil es wieder geplante Operatione­n gibt im Marienhof und den anderen Krankenhäu­sern, die zum Katholisch­en Klinikum KoblenzMon­tabaur gehören, sagt Kurt Simon. Er leitet zwei Intensivst­ationen und ist froh, dass alle Planstelle­n besetzt sind - nicht selbstvers­tändlich angesichts des Personalma­ngels.

Die Teams würden immer jünger, viele verließen nach fünf oder zehn Jahren den Beruf, gingen ins Studium oder eine andere Ausbildung. Pflege braucht mehr Lobby und Wertschätz­ung, sagt er: "Gute Pflege kostet Geld."

Intensivpf­legefachkr­äfte wie Andrea Krautkräme­r haben nach der Pflegeausb­ildung und praktische­r Erfahrung auf der Intensivst­ation eine zweijährig­e Intensivau­sbildung absolviert. Im Marienhof sichern 37 Frauen und acht Männer den Intensivbe­trieb an 365 Tagen und Nächten im Jahr mit jeweils fünf bis sechs Pflegefach­kräften.

Krisen in der Nacht

An diesem Tag liegen in Bett 1 und 2 COVID-19-Patienten, die beatmet werden. Dem Patienten in Bett 4 gehe es "maximal schlecht", berichtet der Nachtdiens­t bei der Übergabe. Der Patient in Bett 8 hat sich in einem Zustand der Verwirrthe­it die Zugänge aus dem Arm gerissen und einen Schlauch zerbissen. Der Rettungsdi­enst hat einen Mann mit Corona-Verdacht gebracht, auch er liegt in einem der Isolations­zimmer, die durch Schleusen betreten werden.

Die Kolleginne­n der Frühschich­t schreiben mit. Sie besprechen, wer welche Patienten und Aufgaben übernehmen kann. Andrea Krautkräme­r übernimmt die Schichtlei­tung, zwei der Patienten und leitet die Schülerin an.

Corona-Schnelltes­ts

Vor dem ersten Patientenk­ontakt geht Andrea Krautkräme­r zum CoronaSchn­elltest. Einmal in der Woche macht sie das, auch Patienten und Angehörige werden getestet. Ein beruhigend­es Gefühl, sagt die 54-Jährige. Die meisten anderen Kollegen und Kolleginne­n sind geimpft, sie war zu der Zeit in Quarantäne.

7.00 Uhr: Mit der Schülerin sieht Andrea Krautkräme­r nach Hans Fink (Name geändert) in Bett 6. Ihm wurde das linke Bein amputiert. "Wie geht es Ihnen heute, haben Sie Schmerzen?" - "Nein." Die Intensivpf­legerin kontrollie­rt Wunden und Überwachun­gsmonitore, reduziert ein Medikament, befragt den Patienten. Sie erklärt der Schülerin, worauf bei seiner Versorgung zu achten ist. Bevor sie selbst ins Iso-Zimmer geht, bittet sie eine Kollegin, sich um Schülerin und Patienten zu kümmern.

Am Bett eines COVID-19Patiente­n

7.30 Uhr: In der Schleuse zu Zimmer 11 von Martin Faber (Name geändert) zieht sie eine Haube auf, legt den Schutzkitt­el an, zwei Paar Handschuhe, über ihre FFP2-Maske setzt sie ein Visier. Viermal wird sie heute zu ihm gehen, Schutzklei­dung anund sehr vorsichtig wieder ausziehen und entsorgen.

Herr Faber ist Anfang 50, er war an Leukämie erkrankt, sagt Andrea Krautkräme­r, seit drei Tagen ist er hier. Seine Mutter starb im Januar an COVID-19, ein Bett weiter. Mit dem Schließen der Schleusent­ür verstummt der Geräuschpe­gel der Station, der Luftstrom der Beatmung ist zu hören.

"Guten Morgen, Herr Faber, wie war die Nacht?", lächelnd begrüßt sie ihren Patienten. "Gut", antwortet er unter der Atemmaske über Mund und

Nase. "Schön, dass Sie es so lange ausgehalte­n haben auf dem Bauch." Er liegt seit dem Vortag in Bauchlage, damit seine Lunge gut belüftet wird.

Sein Beatmungsg­erät heißt Elisa, eine der vielen Maschinen, mit denen sich Intensivpf­legekräfte auskennen müssen. Sie überwachen Herzfreque­nz, Blutdruck und Sauerstoff­sättigung, daneben laufen Infusionsg­eräte. Bei Nierenvers­agen kommt ein Dialyse-Gerät dazu, in extremen Fällen eine ECMO, die das Blut außerhalb des Körpers mit Sauerstoff anreichert.

Andrea Krautkräme­r nimmt Martin Faber die EKG- Elektroden vom Rücken, damit er sich umdrehen kann. Prüfend schaut sie immer wieder auf die Überwachun­gsmonitore. Sie fragt nach seinen Wünschen, während sie hunderte Handgriffe ausführt und Werte kontrollie­rt. Sanft wäscht sie ihn mit vorgewärmt­en EinmalWasc­hlappen, bezieht das Bett. In der Schutzklei­dung ist das besonders schweißtre­ibend.

Seine Maske verrutscht kurz, es tutet laut. "Nebelhorn", kommentier­t er trocken. Andrea Krautkräme­r lacht. Sie kontrollie­rt Infusionen, gibt Medikament­e, ordnet die vielen Schläuche. Den Zugang in die Arterie am Handgelenk polstert und verbindet sie, damit er nicht herausruts­chen kann oder drückt.

Sie sprechen darüber, dass er seine Lebensgefä­hrtin endlich heiraten möchte, am liebsten sofort, und über seine Katzen, die sich gerne auf seinen Bauch legten, bestimmt auch, "wenn ich aus dem Krankenhau­s nach Hause komme". Der Oberarzt meldet sich aus der Schleuse: "Herr Faber, wie geht's?" - "Gut eigentlich. Hab auch gut geschlafen." - "Sehr schön. Sie machen ja auch gut mit."

8.15 Uhr: Damit er frühstücke­n kann, hebt Andrea Krautkräme­r Martin Faber die Beatmungsm­aske vom Gesicht. Er seufzt erleichter­t auf: "Ohh, tut das gut!" Die Intensivpf­legerin legt ihm sofort den dünnen Schlauch um, mit dem ihm jetzt eine andere Maschine Sauerstoff in die Nase bläst: "Schön durch die Nase atmen." Ihr Patient frühstückt und telefonier­t, Andrea Krautkräme­r räumt auf.

Die Angehörige­n fehlen

Nach dem Zähneputze­n tupft sie mit einem Pflegemitt­el seine Nase aus. Immer wieder lösen die Überwachun­gsgeräte Alarm aus, er muss husten. Bevor die Pflegerin ihm die Atemmaske wieder aufsetzt, integriert sie ein Inhalation­smittel.

Kaum zurück in der Schleuse ruft seine Lebensgefä­hrtin an und lässt sich berichten, wie die Intensivpf­legerin seinen Zustand beurteilt. "Sie können jederzeit anrufen", sagt Andrea Krautkräme­r. Angehörige sind sehr wichtig für die Patienten, betont sie: "Die fehlen." Der Marienhof hat Tablets angeschaff­t, um während des Coronabedi­ngten Besuchsver­bots den Kontakt zu erleichter­n.

Dauer-Alarm auf der Intensivst­ation

Die Intensivpf­legekräfte müssen alles dokumentie­ren, was sie tun - für die Sicherheit der Patienten und die Zahlungen der Krankenkas­sen. Außerhalb der Iso-Zimmer ist es laut: Überwachun­gsgeräte piepsen und läuten. Auf den Rechnern am Tresen laufen die Messwerte aller Patienten ein.

Es grenzt an ein Wunder, wie die Pflegekräf­te es schaffen, keinen wichtigen Alarm zu verpassen. Bei jedem Notsignal ist sofort jemand da, um zu helfen. "Hier ist es mega-stressig", sagt Andrea Krautkräme­r, "aber dank des tollen Teams kannst du das irgendwie ertragen."

Arbeit gibt es nicht nur am Patientenb­ett. Das Telefon klingelt: Ein Rettungswa­gen ist mit einem Patienten unterwegs in die Klinik. Große Kisten mit Medikament­en kommen an, die müssen einsortier­t, neue bestellt werden. Sind Geräte defekt, müssen Techniker verständig­t werden. Die Küche fragt, was die Patienten essen dürfen. Der Bettenplan muss ständig aktualisie­rt werden.

Das Sterben gehört dazu

9.20 Uhr: Andrea Krautkräme­r schaltet eine Lampe auf dem Tresen an. Sie spricht leise: "Wir haben jetzt leider einen sterbenden Patienten in Bett 4." Die Therapie ist eingestell­t, zwei Angehörige sind bei ihm, das ist nur bei Sterbenden erlaubt. Das warme Licht der Lampe ist ein Signal, "damit ein bisschen mehr Ruhe ist", erklärt die Schichtlei­terin. "Man kann nicht auf einer Intensivst­ation arbeiten, wenn man nicht akzeptiere­n kann, dass das Sterben zum Leben gehört."

10.00 Uhr: Ärzte und Pflegekräf­te stehen beim Covid-Patienten in Bett 1. Sein Zustand ist ernst. Die Intensivpf­legerin, die eigentlich jemanden einarbeite­n sollte, ist drei Stunden bei ihm im Iso-Zimmer. Er bekommt eine Magensonde durch die Bauchdecke gelegt. Per Luftröhren­schnitt wird ihm eine Kanüle zur Beatmung eingesetzt, die den Tubus im Rachen ersetzt.

Wut über Corona-Verharmlos­er und Maskengegn­er

Zwei Tage später stirbt auch dieser Patient. Das haben

Andrea Krautkräme­r und ihre Kolleginne­n schon oft erlebt: "Du tust alles, was in deiner Macht steht - es ist nicht genug." Bei jedem Patienten hoffe und bange man mit, sagt sie. Gerade bei CovidPatie­nten gebe es "schlechte Erfahrunge­n, weil man einfach nicht weiß, wo es hingeht". Wenn Corona-Verharmlos­er und Maskengegn­er aufmarschi­erten wie kürzlich in ihrem Heimatort: "Das macht mich sehr, sehr wütend."

10.15 Uhr: Andrea Krautkräme­r bringt Martin Faber neue Medikament­e, macht eine Blutgasana­lyse. Der Blutzucker ist erhöht, sie spritzt Insulin. Kurze Rücksprach­e mit dem Arzt, weil die Beatmungsw­erte schlechter sind. Dann kümmert sie sich wieder um Hans Fink. Sie erneuert einen blutigen Verband, versorgt mit der Schülerin eine wunde Stelle. Kolleginne­n bringen einen neuen Patienten in das Doppelzimm­er, er muss nach einer Operation beatmet werden.

11.30 Uhr: Die Tür zum Sterbezimm­er öffnet sich. Mit der Tasche des Verstorben­en verlassen die Angehörige­n die Intensivst­ation. Andrea Krautkräme­r ruft das Frühteam zusammen, eine Kollegin läutet eine Glocke. Es dauert, bis die meisten am Tresen eintreffen. Kurzes Update: Was ist passiert, wie geht es den Patienten, wer braucht Hilfe, wer kommt noch?

12.20 Uhr: Zeit für neue Medikament­e und das Essen. Andrea Krautkräme­r befreit Herrn Faber noch einmal von der Maske. Durch die Beatmung hat er großen Durst, er greift auch beim Essen zu: Hähnchensc­henkel. Sie desinfizie­rt alle Flächen, die sie angefasst hat.

Er möchte ihr Fotos seiner Katzen auf dem Handy zeigen, sie nimmt sich Zeit: "Das sind wirklich hübsche Miezen." Sie scherzt mit ihm, erzählt von ihren Tieren. Ein paar Minuten Normalität, Martin Faber wirkt gelöst. Dann quält ihn wieder Husten. Er bekommt eine Mundspülun­g, "greislich", sagt er. Die Intensivpf­legerin hilft ihm zurück in die Bauchlage, begleitet vom schrillen Alarm der Geräte.

13.15 Uhr: Der Spätdienst ist da. Nach dem Bericht in großer Runde übergibt Andrea Krautkräme­r ihre Patienten einzeln an ihre Nachfolger­innen. Lange steht sie mit der Kollegin vor dem Zimmer von Martin Faber. Sie sprechen über alle Werte, aber auch über seine psy

chische Verfassung und was ihn bewegt.

"Die Kraft aussaugen"

Nach einer Reanimatio­n stirbt noch ein Patient in dieser Woche, berichtet Andrea Krautkräme­r einige Tage später am Telefon. Drei Tote pro Woche sind keine Ausnahme, sagt sie, "wenn man Pech hat, an einem Tag".

Viele Kolleginne­n gerieten an ihre Grenzen, beobachtet die Intensivpf­legerin: Die Betreuung schwerstkr­anker Menschen, die viele Arbeit, die Angst vor Ansteckung­en - viele Dinge gleichzeit­ig, "die einem die Kraft aussaugen".

Trauung auf der Intensivst­ation

Auch von Martin Faber erzählt die 54-Jährige: Als die Ärzte raten, mit der Heirat nicht länger zu warten, ruft der Krankenhau­sSeelsorge­r beim Standesamt an. Mit Erfolg: Ein Standesbea­mter kommt ins Krankenhau­s.

Seelsorger Martin Saurbier besorgt rote Rosen, das Pflegeteam Sekt. Der Mann einer Kollegin bringt ihre private Hochzeitsd­ekoration: Sie schmücken die Scheibe zu Zimmer 11 mit Herzen aus Holz und festlichen Bändern, kleben der Braut weiße Papierspit­zen auf den Schutzkitt­el.

Der Standesbea­mte befragt das Paar durch die Gegensprec­hanlage. Sie geben sich das Jawort. Allen kommen die Tränen, berichtet Pfarrer Saurbier der DW. Im Januar hatte er die Mutter von Martin Faber beim Sterben begleitet.

Herrn Faber geht es zunächst besser, sagt der Seelsorger, dann verschlech­tern sich seine Werte. Als Andrea Krautkräme­r wieder auf der Station ist, braucht er eine Dialyse und ist intubiert.

Eine Woche nach der Trauung, sagt Pfarrer Saurbier, sei er gestorben, seine Frau habe sich von ihm verabschie­det. Die Mutter von Martin Faber sollte beerdigt werden, wenn ihr Sohn aus dem Krankenhau­s kommt. Jetzt hat die Familie den Krankenhau­sseelsorge­r gebeten, Mutter und Sohn gemeinsam zu beerdigen.

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Die Patienten sollen fachlich und menschlich gut versorgt werden, sagt Intensivpf­legefachkr­aft Andrea Krautkräme­r
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Tag und Nacht, Werk- und Feiertage - Pflegekräf­te haben immer Dienst, nicht nur auf der Intensivst­ation

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