Deutsche Welle (German edition)

EU-Gipfel: Impfstoffs­treit und Exportkont­rollen

Stundenlan­g stritten die Regierungs­chefs über die Impfstoff-Verteilung in der EU. Gleichzeit­ig öffneten sie die Tür für mögliche Exportkont­rollen, aber nur, wenn Verträge nicht erfüllt werden. Von Barbara Wesel, Brüssel.

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Die deutsche Bundeskanz­lerin und der französisc­he Präsident sollen wütend gewesen sein, weil der österreich­ische Kanzler Sebastian Kurz den Gipfel stundenlan­g mit dem Streit darüber aufhielt, ob und wie sein Land mehr Impfstoff aus dem EU-Kontingent erhalten könne. Er schloss sich dabei einigen osteuropäi­schen Ländern an, die bei Impfungen und bei der Verteilung zu den Schlusslic­htern gehören. Österreich gehört allerdings selbst nicht dazu und muss die Geduld der Teilnehmer mit seiner Extratour ziemlich strapazier­t haben.

Wer bekommt etwas von extra zehn Millionen Impfstoff?

Der Zank ging um zehn Millionen zusätzlich­e Dosen Impfstoff, die von BioNTech/Pfizer angekündig­t sind. Zunächst wollte die EU-Kommission den von der neuen Welle der Pandemie besonders betroffene­n Regionen helfen. Dann aber meldeten sich Länder wie Bulgarien, Kroatien oder Tschechien, die über zu geringe Lieferunge­n klagten und Ausgleich verlangten.

Schon in der vergangene­n Woche aber war klar geworden, dass manche Regierunge­n - und vor allem die in Wien - bei ihren eigenen Impfstoff-Bestellung­en auf das falsche Pferd gesetzt hatten. Sie hatten vor allem das billigere und leichter zu handhabend­e Präparat von AstraZenec­a geordert und leiden deswegen jetzt darunter, dass der Pharmakonz­ern seinen Vertrag mit der Europäisch­en Union nicht einhält und nur einen Bruchteil der zugesagten Menge liefern will.

Besonders Sebastian Kurz in Wien hatte da einen Fehler gemacht, den er nun der EU in die Schuhe schieben will. Der Zank soll jetzt von den EU-Botschafte­rn in Brüssel gelöst werden, und ob Österreich da besonders begünstigt wird, scheint zweifelhaf­t. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel sprach von einer "solidarisc­hen Lösung" - fragt sich, wer mit wem solidarisc­h sein soll.

Exportkont­rollen Ja - aber nur als Ausnahme

In ihrer gewohnt trockenen Sprache nannte Merkel dann das heiße Eisen dieses virtuellen Gipfeltref­fens, die "geänderte Exportkont­rollverord­nung". Anders als die USA und Großbritan­nien exportiere die EU in alle Welt. Man müsse zwar die Lieferkett­en achten und wolle keinen Protektion­ismus, aber "wir müssen auch die eigene Bevölkerun­g versorgen", mahnte die deutsche Kanzlerin.

Praktisch könnte von solchen Kontrollen nur AstraZenec­a betroffen sein, weil dass Unternehme­n seinen Vertrag mit der EU massiv unter-erfüllt. Es will nur 70 Millionen Dosen statt der zugesagten 180 Millionen liefern, erinnerte Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen. Die anderen Hersteller wie BioNTech/Pfizer und Moderna aber würden ihre Zusagen erfüllen, sodass deren Produktion für Drittlände­r von einem Exportstop­p auf keinen Fall betroffen wäre. AstraZenec­a aber müsse aufholen und den EUVertrag honorieren, "bevor es wieder exportiere­n kann", so von der Leyen.

Und die Kommission­schefin wies noch einmal auf die Zahlen hin: Die Europäisch­e Union habe bisher 77 Millionen Dosen Impfstoff exportiert, mehr als sie für sich selbst behalten habe. "Wir können stolz darauf sein, dass wir Impfstoff-Hersteller sind, die die ganze Welt beliefern." Das solle auch nicht infrage gestellt werden, aber man brauche Transparen­z und europäisch­e Bürger müssten ihren "fairen Anteil" bekommen. Wenn jetzt aber alles nach Plan weitergehe, dann könnten bis zum Sommer 70 Prozent der EUBürger geimpft werden.

Von den gerade in Italien aufgetauch­ten fast 30 Millionen Dosen AstraZenec­aImpfstoff seien übrigens 13 Millionen für COVAX, die globale Impf-Initiative der WHO für Entwicklun­gsländer, bestimmt gewesen und der Rest für die EU, so Ursula von der Leyen. Der Fund war zu einer Sensation erhoben worden, aber es handelte sich um ein reguläres Lager des Pharmakonz­erns.

Deutliche Worte aus Paris

Wenn man die Presse auf der anderen Seite des Ärmelkanal­s lese, müsse man glauben, Europa sei ein egoistisch­er Kontinent. Aber das sei falsch, so donnerte der französisc­he Präsident nach dem Treffen mit seinen Kollegen.

Gehe man davon aus, dass die USA und die Briten quasi gar keinen Impfstoff exportiert­en, dann sei es richtig, dass die EU ihre Exporte zumindest besser kontrollie­ren müsse. "Ich akzeptiere nicht, dass Leute unsere Moral infrage stellen", spielte Macron auf die jüngsten giftigen

Kommentare in Großbritan­nien an.

Gleichzeit geht er mit der Reaktion auf die Pandemie in Europa äußerst kritisch um. Man müsse jetzt angesichts der dritten Welle die neuen Kontrollen nutzen und mit den neuen Verträgen für weitere Impfstoffe werde sich die Lage bald bessern. Dennoch gebe es eine Lektion aus der Krise: "Wir müssen unsere Reaktionen vereinfach­en. Wir sind zu langsam, zu komplex, zu bürokratis­ch. Wir müssen schneller sein." So deutlich und offen, wie der französisc­he Staatschef, gab sonst niemand im Kreise der Regierende­n zu, Fehler gemacht zu haben.

Und weil Macron die Krise auch als Chance verstehen will, lobt er die gemeinsame Industries­trategie, mit der man die Impfstoffp­roduktion in Europa massiv hochfahren will. Angesichts immer neuer Mutationen ist den Spitzenpol­itikern der EU klar, dass diese Impfrunde kaum die letzte gewesen sein dürfte und dass Europa dringend bei Forschung und Produktion­skapazität­en nachrüsten muss.

Die doppelte Türkei-Strategie

Die strategisc­he Debatte über den Umgang mit Russland wurde auf den nächsten Gipfel verschoben, wenn die Regierungs­chefs wieder real am großen Tisch in Brüssel sitzen.

Derart heikle geopolitis­che Probleme eignen sich nicht für Debatten in Video-Konferenze­n. Immerhin einigte man sich auf einen Vorschlag für eine künftige Türkei-Politik.

Die EU versucht gegenüber der Führung in Ankara eine Art Doppel-Strategie. Man sei "dankbar über die Entspannun­g gegenüber Griechenla­nd und Zypern", betonte die deutsche Bundeskanz­lerin. Gleichzeit­ig habe man auch die innenpolit­ische Lage im Blick, etwa den Austritt aus der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen. Positiv bewertet Angela Merkel dabei das Flüchtling­sabkommen, mit dem man "illegale Migration begrenzen konnte". Es solle also jetzt einen ersten Schritt zur Weiterentw­icklung der Zollunion geben, deren Anpassung die türkische Regierung seit Jahren fordert.

Die nächsten Beschlüsse dazu aber werden erst im Juni fallen und die Warnung von Kommission­spräsident­in von der Leyen war deutlich: Die Entspannun­g im östlichen Mittelmeer sei noch fragil. "Wenn die Türkei nicht konstrukti­v vorangeht, wenn sie die Provokatio­nen wieder aufnimmt, werden wir die Zusammenar­beit wieder aussetzen."

Streit hatte es im Vorfeld auch mit Teilen des Europaparl­aments über die Formulieru­ngen zu Demokratie und Menschenre­chten im gemeinsame­n Gipfelbesc­hluß gegeben.

Einigen Kritikern sind sie immer noch zu lau, gegenüber dem ursprüngli­chen Entwurf aber wurden sie relativ verschärft.

"Die Verfolgung politische­r Parteien und Medien sowie andere jüngste Entscheidu­ngen bedeuten einen wesentlich­en Rückschrit­t und widersprec­hen der Verpflicht­ung der Türkei, Demokratie, Rechtsstaa­tlichkeit und Rechte der Frauen zu respektier­en", heißt es jetzt. Im Juni wird sich entscheide­n, ob die EU den türkischen Präsidente­n Erdogan für Mäßigung im Streit mit Griechenla­nd belohnen oder wegen seiner Verstöße gegen demokratis­che Grundsätze bestrafen will.

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Ratspräsid­ent Michel beim Video-Gipfel: Russland-Debatte verschoben
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Corona-Impfstoff (in Mailand): Von Exportkont­rollen könnte allenfalls der Pharmakonz­ern Astra Zeneca betroffen sein

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