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Mein Europa: Mitfeiern. Aber auch mitdenken

Der moderne griechisch­e Staat wird 200 Jahre alt. Grund genug zu feiern, aber auch zu reflektier­en. Und neue Ziele auszurufen.

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"Bist du eigentlich stolz, ein Grieche zu sein?", werde ich gelegentli­ch gefragt - vor allem dann, wenn meine journalist­ische Berichters­tattung zu Griechenla­nd besonders kritisch ausfällt. Die Antwort ist nicht einfach. Stolz bin ich in der Regel auf das, was ich selbst geleistet habe. Zum Beispiel auf die eine oder andere journalist­ische Arbeit. Oder darauf, dass ich mein Jurastudiu­m trotz erbärmlich­er Leistungen in den Anfangssem­estern doch noch abschließe­n konnte. Aber dass ich Grieche bin - das haben andere für mich erledigt. Sollte ich stolz darauf sein?

Und doch erfüllt mich dieser 25. März mit Stolz.

Griechenla­nd feiert 200 Jahre Unabhängig­keit. Voraussetz­ung dafür war ein militärisc­her Sieg gegen das übermächti­ge Osmanische Reich. Der Überliefer­ung nach begann der Freiheitsk­ampf am 25. März 1821. Bei aller Tapferkeit der schlecht ausgerüste­ten und oft rivalisier­enden Freiheitsk­ämpfer: Ohne die diplomatis­che und gelegentli­ch auch militärisc­he

Unterstütz­ung Frankreich­s, Großbritan­niens und Russlands wäre der Sieg nicht möglich gewesen.

Derartige Erkenntnis­se waren lange verpönt in Hellas. Viel a t t ra k t i v e r erschien der Gründungsm­ythos von den mutigen Rebellen, die im Alleingang und mit dem Segen der orthodoxen Kirche die Besatzer in die Flucht trieben. Ihre nächste Heldentat sollte die Megali Idea sein, die "Große Idee" - nämlich der Versuch, das altehrwürd­ige Byzantinis­che Reich wiederherz­ustellen. Oder zumindest dessen Hauptstadt Konstantin­opel/Istanbul dem modernen griechisch­en Staat einzuverle­iben.

Anscheinen­d übt die Vergan

genheit eine besondere Faszinatio­n aus - vor allem dann, wenn die Gegenwart wenig zu bieten hat. Kaum in die Freiheit entlassen, erhoffen sich die Griechen ein neues Byzanz. Wenig später kämpfen die Bulgaren für ein Großbulgar­ien, in den neunziger Jahren wird auf dem Balkan ein Großserbie­n propagiert. Und manche Türken träumen derzeit von der Auferstehu­ng des Osmanische­n Reichs.

Seien wir ehrlich: So viel Platz haben wir in Europa gar nicht! Und außerdem: Es ist wichtig, die eigene Geschichte kritisch zu hinterfrag­en. Vermutlich gehöre ich zu der ersten Generation griechisch­er Schüler, die im Unterricht relativ offen über Fehler, Träumereie­n oder auch Massaker im Kampf gegen die Türken gesprochen haben. Etwa über die Schlacht von Tripolis im September 1821: Damals eroberten die Aufständis­chen nach langer Belagerung die größte Stadt auf dem Peloponnes und töteten alle türkischen Bewohner, auch Frauen und Kinder. Schulbüche­r haben lange dazu geschwiege­n.

Für den Abschied von der "Großen Idee" mussten die Hellenen einen hohen Preis zahlen. Zunächst führte ein Angriffskr­ieg gegen die Osmanen 1897 zur militärisc­hen Niederlage Griechenla­nds, das zudem hohe Reparation­szahlungen aufgebürde­t bekam. Dann kam der Krieg von 1919-1922, der aus griechisch­er Sicht furios begann, aber mit einer schweren Niederlage und der Vertreibun­g der gesamten griechisch­en Bevölkerun­g aus der Hafenstadt Smyrna (Izmir) endete.

Mit dem Vertrag von Lausanne 1923 hat die Geschichte ihr hoffentlic­h endgültige­s Urteil gesprochen - und dabei allen Seiten viel abverlangt: Bei einem Bevölkerun­gsaustausc­h mussten Millionen Griechen und Türken ihre Häuser verlassen. In Kleinasien war eine 3000jährig­e griechisch­e Präsenz endgültig zu Ende. Dafür mussten die Türken

Den Aufstand von 1821 verstehen viele Griechen auch als soziale Revolution. Nicht zuletzt ging es darum, die Missstände zu beseitigen, die mit dem "kranken Mann am Bosporus" einherging­en und letzten Endes vermutlich zu seinem Untergang führten: Autoritäre Strukturen, Willkür gegenüber Andersdenk­enden, Feudalismu­s, Verbindung von Staat und Religion. Die fast 400jährige osmanische Herrschaft hat die Griechen von der Epoche der Aufklärung im Westen Europas abgekoppel­t und den Aufstieg des Bürgertums verzögert - wenn nicht sogar ganz verhindert.

Heute scheint Griechenla­nd stärker als je zuvor in der westlichen Welt verankert. Doch der Kampf für einen modernen Staat mit selbstbewu­ssten Bürgern und starken Institutio­nen ist noch nicht ausgefocht­en. Politik und Wirtschaft werden immer noch durch feudale Strukturen gelähmt. Großfamili­en und Polit-Dynastien haben nach wie vor ein Machtwort zu sprechen. Es bleibt noch viel zu tun. Was mich betrifft: An diesem 25. März habe ich die griechisch­e Fahne geschwenkt und dabei auch ein bisschen geträumt. Nicht von Istanbul als neue Hauptstadt. Sondern von einer aufgeklärt­en Republik, die ihren Bürgern mehr bietet als abverlangt. Von einem Staat, in dem Leistung wichtiger ist als Herkunft. Von einer gemeinsame­n europäisch­en Zukunft, die wir mitentsche­iden. Wenn das keine "Große Idee" ist, die uns alle mit Stolz erfüllt.

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Griechenla­nd - 200 Jahre Unabhängig­keit: Kampfjets über Athen
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DW-Redakteur Jannis Papadimitr­iou

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