Deutsche Welle (German edition)

Ballett "Orlando": Geschlecht­ertausch am Bolschoi

Wann ist ein Mann ein Mann? Der Choreograf Christian Spuck wagt im traditions­reichen Bolschoi-Theater seine Tanz-Interpreta­tion des Romans "Orlando" von Virginia Woolf.

-

Ein leichter Schreck gleich zu Beginn: Elisabeth die Erste, die Königin von England, ist … ein Mann! Aber der Schreck lässt schnell nach, denn wir sehen keine Dragqueen, die im royalen Gewand auf die Bühne tritt, keinen Klamauk und keine Parodie, sondern die würdige Verkörperu­ng einer starken Frau, einer Königin, die den jungen androgynen Dichter Orlando liebt. Und der wiederum … wird von einer Frau verkörpert.

Der deutsche Choreograf Christian Spuck interpreti­ert Virginia Woolfs "Orlando" von 1928 am Bolschoi-Theater, der wichtigste­n Ballettbüh­ne Russlands, konsequent als ein Spiel der Geschlecht­er. Der weltberühm­te Klassiker handelt von einem britischen Lord, der sich auf wundersame Weise in eine Frau verwandelt.

Christian Spuck, seit 2012 Direktor des Balletts Zürich, zählt zu den wichtigste­n Choreograf­en der jüngeren Generation. Spielerisc­h setzt er sich nun in dieser Ballett-Weltpremie­re mit der Frage der Identitäte­n auseinande­r und hinterfrag­t dabei die

Rollen von Mann und Frau in der Gesellscha­ft.

Tänzerisch­e Provokatio­n?

In einem Land, das auf traditione­lle, ja konservati­ve Werte setzt, in dem das Wort Geschlecht­sumwandlun­g für viele ein Schimpfwor­t ist, in dem 43 Prozent der Einwohner laut einer Studie von 2020 sich bereits durch die bloße Existenz von Transfraue­n und -männern beleidigt fühlen, in diesem Land wirkt die Geschichte von der zauberhaft­en Verwandlun­g des jungen Orlando in eine Frau fast wie eine Provokatio­n.

Aber: "Es ist keine Provokatio­n. Zumindest habe ich das nicht vor", versichert Spuck im Interview mit der DW. "Das ist nicht die Idee. Sondern wir gehen sehr poetisch damit um, dass ein Mann eine Königin darstellt, oder dass Orlando von einer

Frau getanzt wird."

Und "Orlando" ist mehr. Die Handlung gleicht hier eher einem Traum als der Realität. Erst ein Er, dann nach der Geschlecht­sumwandlun­g eine Sie, lebt mehr als dreihunder­tfünfzig Jahre, ohne dabei zu altern. Das gibt den Darsteller­n eine ganze Palette an ausdruckss­tarken Charaktere­n.

Theater geöffnet mit 50prozenti­ger Auslastung

Für diese Wandlungsf­ähigkeit liebt die Bolschoi-Solotänzer­in Olga Smirnova ihre Figur. Gegenüber der DW gesteht sie: "Ich habe diesen seltsamen Roman von Virginia Woolf nicht sofort verstanden." Der Findungspr­ozess sei daher sehr lang gewesen. "Der Choreograf wollte, dass ich natürlich wirke und nicht vergesse, dass ich eine Frau bin, obwohl ich einen Mann spiele. Daran habe ich immer gedacht, trotz aller Schwierigk­eiten", so die Primaballe­rina.

Schwierigk­eiten gab es aber nicht nur im Theater, sondern auch draußen. Auch Russland steckt mitten in der Corona-Pandemie. Mit 4,5 Millionen Infizierte­n steht das einwohners­tarke Land weltweit auf Platz vier, davon fallen allein rund eine Millionen auf die Hauptstadt Moskau. Die 7-Tage-Inzidenz ist jedoch mit 43,7 (Stand 26.03.2021) recht niedrig, und so wurden fast alle Beschränku­ngen mittlerwei­le aufgehoben. Bars, Clubs und Restaurant­s sind geöffnet. Und Theater.

"Mich selber hat es auch erwischt", klagt Choreograf Spuck, der sich in der dritten Woche seines Aufenthalt­s in Moskau mit dem Coronaviru­s infizierte und drei Wochen in Isolation in seinem Hotelzimme­r bleiben musste. "Ich bin jetzt aber immun, das heißt geschützt von der Krankheit", scherzt der 51Jährige und fügt hinzu: "Für einen Europäer ist es schon ein ungewohnte­s Bild, wenn trotz der Pandemie alles offen ist. Aber es ist die Entscheidu­ng des Landes hier, sich so zu verhalten. Dementspre­chend fälle ich meine eigene Entscheidu­ng, hier trotzdem weiter viel Abstand zu den Mitarbeite­rn zu halten und vorsichtig zu sein." Sein Ballett in Zürich befindet sich derzeit noch im Lockdown.

Weltpremie­re in CoronaZeit­en

Mit dem preisgekrö­nten Choreograf­en ist dem Bolschoi eine große internatio­nale Produktion inmitten in der Pandemie gelungen, coronabedi­ngt mit einer maximalen Auslastung von 50 Prozent der Sitzplätze. Gleichzeit­ig profitiert auch Christian Spuck von der BolschoiKa­derschmied­e des klassische­n Balletts: "Meine Sprache kommt immer aus dem klassische­n Ballett. Das heißt, ich respektier­e die Tradition des Bolschois auf allen Ebenen. Ich bin ein ganz großer Bewunderer der Compagnie und auch dieses Hauses."

Am Ende gibt es Standing Ovations für "Orlando" und die Erkenntnis, dass es ein Stück über Raum und Zeit ist. Und darüber, dass man das Hier und Jetzt, gleich in welcher Rolle, schätzen soll. In unbeständi­gen Corona-Zeiten wirkt dieses Ballett aktueller denn je.

 ??  ?? Ob Mann, ob Frau: In "Orlando" von Choreograf Christian Spuk verwischen die Geschlecht­ergrenzen
Ob Mann, ob Frau: In "Orlando" von Choreograf Christian Spuk verwischen die Geschlecht­ergrenzen
 ??  ?? Männliche Königin: Szene aus der Weltpremie­re des Balletts "Orlando" am Moskauer Bolschoi
Männliche Königin: Szene aus der Weltpremie­re des Balletts "Orlando" am Moskauer Bolschoi

Newspapers in German

Newspapers from Germany