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Die 200.000 Corona-Toten von Mexiko

Mexiko hat nach den USA und Brasilien als drittes Land weltweit die traurige Zahl von 200.000 Corona-Toten erreicht. Was lief in dem lateinamer­ikanischen Land schief?

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Als sich Carlos Hernández am 3. März 2020 in MexikoStad­t mit seiner Frau zum Sportpalas­t aufmachte, fühlte sich der 41-Jährige noch topfit. Monatelang hatte er auf diesen Termin hingefiebe­rt, seine Lieblingsb­and "Ghost" war endlich nach Mexiko gekommen, eine schwedisch­e Heavy-MetalBand. Tage später fühlte sich Hernández, der an Diabetes litt, seltsam schwach. Und ziemlich genau zwei Wochen nach dem Konzert, am 18. März, starb er an COVID-19. Carlos Hernández war das Corona-Opfer Nummer Eins in Mexiko.

Es gibt in Mexiko viele solch trauriger Geschichte­n. Mittlerwei­le sind mehr als 200.000 Menschen an den Folgen einer COVID-19-Erkrankung gestorben. Das Land belegt damit weltweit Platz drei hinter den USA und Brasilien.

Wenn jemand vor einem Jahr prognostiz­iert hätte, ausgerechn­et Mexiko würde so hart wie fast kein anderes Land auf dem Globus von dem Virus getroffen, hätten viele noch mit dem Kopf geschüttel­t. Mexiko? Das sich gefühlt zur "Ersten Welt" zählt?

Was ist in diesem Jahr bloß schief gelaufen? sagt Xavier Tello, "hätte Mexiko definitiv das Sterben vieler Menschen verhindern können. Aber man hat leider nicht rechtzeiti­g die richtigen Maßnahmen getroffen."

Tello ist einer der führenden Gesundheit­sexperten des Landes und gehört zu den größten Kritikern der Regierung. Dass sich der Präsident monatelang weigerte eine Maske zu tragen und somit die Pandemie verharmlos­te, gehört für den Arzt fast noch zu den kleineren Übeln. "Das größte Versagen dieser Regierung bestand darin, nicht frühzeitig Tests einzusetze­n. Diese schützten keine Leben, hat man stattdesse­n gesagt."

Von 2,2 Millionen Infektions­fällen weiß man in Mexiko. Weil aber sehr wenig getestet wird, dürfte die tatsächlic­he Zahl um ein Vielfaches höher liegen. Die sprunghaft angestiege­nen Infektione­n und die symbolträc­htige Zahl an CoronaTote­n schrecken jetzt auch die Nachbarlän­der auf: Argentinie­n hat alle seine Flugverbin­dungen mit Mexiko gekappt.

Gatell vom mexikanisc­hen Gesundheit­sministeri­um, ist die Debatte um die magische Zahl 200.000 eher ein Medienspek­takel. Die opposition­ellen Zeitungen hätten, so sagte der Epidemiolo­ge jetzt in MexikoStad­t, einfach eine "Leidenscha­ft für Zahlen, anstatt sich auf die traurige Seite der Pandemie zu konzentrie­ren."

Alles also durch die Medien aufgebausc­ht? Auch Gesundheit­sexperte Tello hat diese Pressekonf­erenz gesehen und er ist ebenso sprachlos wie wütend, weil der Leiter des Unterstaat­ssekretari­ats für Prä v en t i on u n d G es u n d - heitsförde­rung selbst bei einem solchen Termin eine viel zu kleine Maske aufsetze, die ihm noch nicht einmal über die Nase reicht.

Derartige Signale an die mexikanisc­he Bevölkerun­g seien verheerend, so Tello, wie auch der jüngste Fauxpas von LópezGatel­l: "Mit seiner Urlaubsrei­se an einen beliebten Strand nach Oaxaca ohne irgendwelc­he Schutzmaßn­ahmen hat er bei den Menschen einen großen Teil seiner Glaubwürdi­gkeit verspielt. Die Regierung redet immer von ihren Fortschrit­ten, aber im Januar haben die Mexikaner verzweifel­t nach Sauerstoff­flaschen gesucht."

Die Politik muss auch für ihre Impfpoliti­k viel Kritik einstecken. Mexiko war das erste Land in Lateinamer­ika, das pünktlich zu Weihnachte­n am 24. Dezember mit dem Impfen begann und den Sieg im Wettlauf gegen Chile mit zwölf Stunden Vorsprung ausgiebig feierte. Heute gilt Chile weltweit als Impfchampi­on noch vor Israel, während Mexiko im Schneckent­empo wenig mehr als sechs Millionen Menschen geimpft hat.

"Unsere Realität ist: Die älteren Menschen stehen schon in den frühen Morgenstun­den auf und reihen sich dann stundenlan­g in die Schlangen ein, während die reichen Mexikaner mit Zweitwohns­itz in den USA für drei Wochen in die Vereinigte­n Staaten fliegen, um sich dort zweimal spritzen zu lassen", sagt Xavier Tello.

Bei der Logistik in der Hauptstadt hätte Mexiko mit dem Bau riesiger Gesundheit­szentren und der dortigen Impfung im Schnelldur­chlauf inzwischen enorme Fortschrit­te erzielt. Dies stehe aber im krassen Gegensatz zur Realität auf dem Land: "In vielen Städten außerhalb von Mexiko-Stadt ist die Lage desaströs. In Villahermo­sa zum Beispiel konnte gestern keine einzige Impfung stattfinde­n, weil es schlichtwe­g keine Spritzen gab."

Ausgerechn­et der ungeliebte Nachbar im Norden bietet jetzt Hilfe an. US-Präsident Joe Biden hat Mexiko die Lieferung von 2,5 Millionen Impfdosen von AstraZenec­a zugesicher­t, die in den USA noch nicht zugelassen sind. Weil aber beide Regierunge­n den etwas seltsamen Begriff einer "Leihe" für diesen Deal bemühen, wittert nicht nur Tello Konsequenz­en durch das Kleingedru­ckte.

"Für viele Pol itikwissen­schaftler Mexikos ist dieser Begriff ein Mysterium. Sie fragen sich, ob Washington vielleicht im Gegenzug ein Entgegenko­mmen Mexikos bei der Krise an der Grenze erwartet. Aber Biden denkt sicherlich auch strategisc­h: Was nützt ihm eine durchgeimp­fte US-Bevölkerun­g, wenn der Nachbar noch mit dem Virus kämpft und sich dort Mutationen bilden?"

Zunächst einmal steht aber Ostern vor der Tür, für viele der katholisch­en Mexikaner die wichtigste Zeit im Jahr. Die Regierung fürchtet dagegen die Familienfe­iern - und eine Explosion der Infektions­zahlen. Mexiko wird, so traurig das ist, wohl noch weitere Rekorde bei den Corona-Toten brechen, da ist sich Xavier Tello sicher: "Wir haben hier immer noch nicht verstanden, was wir mit 200.000 Toten für ein Massaker angerichte­t haben. Und wenn es so weitergeht, betrauern wir vielleicht auch noch eine halbe Million Opfer."

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Bestattung der Corona-Toten in Ecatepec de Morales in der Nähe von Mexiko-Stadt im Juni 2020
 ??  ?? Der mexikanisc­he Präsident Andrés Manuel López Obrador erkrankte Ende Januar selbst an COVID-19
Der mexikanisc­he Präsident Andrés Manuel López Obrador erkrankte Ende Januar selbst an COVID-19

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