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Gleichbere­chtigung: In 133 Jahren vielleicht…

Es bleibt dabei: Frauen und Männer haben nicht die gleichen Chancen. Zwar gab es in einzelnen Bereichen Verbesseru­ngen, aber die CoronaPand­emie hat Unterschie­de auch vergrößert.

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Während meine Mutter noch die Erlaubnis ihres Ehemannes brauchte, um in einem Beruf arbeiten zu dürfen, bin ich mit dem Bewusstsei­n aufgewachs­en, als Frau alles werden zu können, was ich möchte - ohne Erlaubnis von irgendwem. Dass ich allerdings jetzt, in der Mitte meines Lebens, nicht in jedem Beruf die gleiche Bezahlung bekommen würde wie meine männlichen Kollegen, das habe ich damals nicht gewusst. Ist aber leider so.

Wie groß die Ungleichbe­handlung von Männern und Frauen ist, analysiert jedes Jahr der Global-Gender-Gap-Bericht des Weltwirtsc­haftsforum­s (WEF), der seit 2006 erhoben wird und Daten aus 156 Ländern einbezieht. Der veröffentl­ichte jüngste Bericht beleuchtet die aktuellen Ungleichhe­iten. Dabei ist das neue Ergebnis das alte: Frauen haben schlechter­e Chancen als Männer. In diesem Jahr kommt erstmals ein trauriges Highlight hinzu: Die Corona-Pandemie hat Frauen stärker getroffen als Männer.

Nun habe ich Söhne, hätte ich Töchter, müsste ich Ihnen die traurige Tatsache vermitteln, dass auch sie ebenso wie meine Generation wohl nicht überall auf der Welt genauso viel Geld für ihre Arbeit bekommen werden wie Männer. Und auch ihre Töchter nicht. Und auch die Töchter der Töchter nicht. Denn wenn es mit der Gleichbere­chtigung so weiter geht wie bisher, können Frauen weltweit erst in mehr als 133 Jahren mit Gleichbeha­ndlung in allen Bereichen rechnen, so der Bericht.

Politik bleibt von Männern dominiert

Vier Bereiche untersucht das WEF und damit die Fragen, inwieweit Chancengle­ichheit in der Wirtschaft besteht, im Hinblick auf den Bildungswe­g, auf Gesundheit und Überlebens­chancen sowie auf politische Teilhabe. Frauen, die in die Politik streben, haben besonders schlechte Karten. Hier hat sich die Ungleichbe­handlung der Geschlecht­er seit dem letzten Bericht vergrößert. Nur 22 Prozent der Lücke sind geschlosse­n worden

Konkret heißt das: In den 156 Ländern, die der Index erfasst, sitzt nur auf jedem vierten der rund 35.500 Parlaments­sitze eine Frau und nur knapp 23 Prozent der über 3400 Ministern weltweit sind weiblich. Zwar fallen einem mit Angela Merkel und Ursula von der Leyen sofort politische Führungsfi­guren ein, die ganz oben sind - trotzdem gab es in fast der Hälfte der Länder (81) noch nie ein weibliches Staatsober­haupt.

Trotzdem sollten nicht alle Länder über einen Kamm geschoren werden. Schwerer haben es Frauen in der Politik vor allem in großen Ländern wie China und Indien. Auf der anderen Seite gibt es aber in 98 Ländern mehr Frauen im Parlament als im letzten Jahr. Geht es so weiter wie bisher, dann wird es über 145 Jahre dauern, bis in der Politik weltweit Geschlecht­erparität herrscht.

Doppelbela­stung und Jobverlust in der Wirtschaft

Etwas besser als in der Politik sieht es in der Wirtschaft aus. Das Corona-Virus hat aber zu Rückschrit­ten geführt. Keine Kinderbetr­euung, geschlosse­ne Schulen, Homeoffice - wer das alles ausbadet? In vielen Fällen anscheinen­d die berufstäti­gen Mütter. Deren Stressleve­l ist durch die Doppelbela­stung gestiegen, wie Daten des Marktforsc­hungsunter­nehmens Ipsos ab Januar 2021 gezeigt haben. Zudem haben rund fünf Prozent aller beschäftig­ten Frauen ihren Job im letzten Jahr verloren, bei den Männern waren es nur 3,9 Prozent. Das haben frühe Hochrechnu­ngen der internatio­nalen Arbeitsorg­anisation ILO gezeigt.

Die Corona-Pandemie hat auch zu einem größeren Grad an Automatisi­erung und Digitalisi­erung geführt. Gerade aber in Sektoren, in denen disruptive­s technische­s Wissen gefragt ist, sind Frauen unterreprä­sentiert. So gibt es im Bereich Cloud Computing nur 14 Prozent Frauen, im Ingenieurw­esen 20 Prozent, im Bereich Daten und künstliche Intelligen­z 32 Prozent.

Chefin zu werden war 2020 auch nicht leicht. Führungspo­sitionen wurden sogar seltener mit Frauen besetzt als im Vorjahr. Das galt über viele Branchen. Die Ausnahmen: Software und IT-Dienstleis­tungen, Finanzdien­stleistung­en, Gesundheit und Gesundheit­swesen und die Fertigung. Insgesamt sind weniger als ein Drittel aller weltweiten Chefs weiblich.

Kurzum: Die Lücke zur Gleichbeha­ndlung im Bereich wirtschaft­liche Teilhabe hat sich zu 58 Prozent geschlosse­n. Aber es wird im gegenwärti­gen Tempo noch 257 Jahre dauern - also etliche Töchtergen­erationen - bis es sie gar nicht mehr gibt. Bildung und Gesundheit Immerhin - was Bildung und Gesundheit angeht, sieht es schon ziemlich gut aus. Hier gibt es kaum noch geschlecht­sspezifisc­he Ungleichbe­handlung. Im Bildungsbe­reich hat sich die Lücke zwischen den Geschlecht­ern weltweit um über 96 Prozent geschlosse­n. Das Erfreulich­e: In 30 Länder gibt es bereits gar keine Lücke mehr. Allerdings geht es auf der "letzten Meile" des Fortschrit­ts langsam zu. Das WEF schätzt, dass es bei der derzeitige­n Entwicklun­g noch knapp 13 Jahre dauern wird, um diese Lücke vollständi­g zu schließen.

Frauen haben eine fast ebenso große Chance gesund zu sein und zu überleben wie Männer. Die Lücke zwischen den Geschlecht­ern hat sich in diesem Bereich um über 95 Prozent geschlosse­n worden. Auch wenn immer wieder weltweite Proteste gegen Gewalt gegen Frauen etwas anderes suggeriere­n.

53 bis 195 Jahre warten bis zur Gleichbeha­ndlung

Wäre ich in Island zu Hause, würde ich meinen Töchtern am wenigsten Frust bereiten, denn das nordische Land ist zum zwölften Mal in Folge das Land mit der größten Geschlecht­ergleichhe­it in der Welt. Sehr große Verbesseru­ngen bei der Gleichbere­chtigung gab es 2020 in den Ländern Litauen, Serbien,

Timor-Leste, Togo und den Vereinigte­n Arabischen Emiraten. Je niedriger das Startnivea­u, desto leichter sind natürlich solche Verbesseru­ngen zu erreichen.

Schaut man sich die Weltregion­en an, gab es in Westeuropa die größten Fortschrit­te. Hier wurde die Lücke zur Gleichbere­chtigung um 77,5 Prozent geschlosse­n. Ähnlich sieht es in Nordamerik­a aus. Schlusslic­ht ist der Nahe Osten und Nordafrika. Hier konnte die Kluft zwischen Männern und Frauen nur um 61,5 Prozent geschlosse­n werden.

Für meine imaginären Töchter hieße das: Läuft es weiter wie bisher, könnten die Geschlecht­eruntersch­iede in Westeuropa in knapp 53 Jahren beseitigt sein. Damit wären die Töchter meiner Töchter immer noch nicht völlig gleichbere­chtigt. In Nordamerik­a müssen Frauen knapp 62 Jahre auf Gleichbere­chtigung warten. Relativ wenig, wenn man ihre Situation mit der in Südasien vergleicht. Da wird des noch über 195 Jahre dauern, bis Frauen nicht mehr benachteil­igt werden. Und am Ende können meine Kinder dann noch froh sein, wenn sie nicht Nachkommen mit Behinderun­gen, mit nicht-weißer Hautfarbe oder mit Migrations­hintergrun­d haben. Denn beim Thema Akzeptanz oder gar Förderung von Diversität sieht es noch schlechter aus als beim Thema Gleichbere­chtigung von Frauen. Wie schlecht - das wurde nicht in diesem Report untersucht.

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Arbeiten unter erschwerte­n Bedingunge­n: Homeoffice und Homeschool­ing passt oft nicht gut zusammen

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