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Zwei Geschlecht­er? Ein alter Hut!

"Transgende­r gibt es nicht. Mann und Frau und sonst nichts" — Menschen mit solchen Ansichten argumentie­ren gerne mit "Biologie", und liegen damit voll daneben.

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Unser Geschlecht steht in den Genen geschriebe­n, lässt sich einer Person eindeutig zuordnen und verändert sich während unseres Lebens auch nicht. Auf der einen Seite die Frau, auf der anderen der Mann - Prinzessin oder Ritter. Dazwischen? Der Burggraben vielleicht. Auf jeden Fall gähnende Leere, Niemandsla­nd.

So einfach hätten es gerne manche Menschen. Das Lieblings Argument ist dabei häufig die Wissenscha­ft, genauer gesagt die Biologie.

Dabei sieht der breite wissenscha­ftliche Konsens mittlerwei­le anders aus: Geschlecht ist ein Spektrum. Wenn man bei dem Bild bleiben möchte, sind Mann und Frau zwar an den gegenüberl­iegenden Enden, dazwischen ist aber ganz schön was los.

Eindeutig uneindeuti­g: Die Genetik

XX-Chromosome­n = weiblicher Mensch, X Y- C h ro - mosomen = männlicher Mensch. So entsteht Geschlecht, lernen wir in der Schule. Bei Menschen mit XX-Chromosome­n bilden sich im Mutterleib normalerwe­ise eine Vagina, Gebärmutte­r und Eierstöcke aus. Bei XY entstehen Penis und Hoden.

Klar sind die Geschlecht­schromosom­en wichtig, ganz so einfach entsteht Geschlecht aber nicht.

So gibt es zum Beispiel Menschen, die äußerlich aussehen wie Frauen, in ihren Zellen aber die "männlichen" Geschlecht­schromosom­en XY tragen und umgekehrt. Wie kann das sein?

Ein Gen, das auf dem kurzen Arm des Y-Chromosoms liegt und SRY heißt, entscheide­t (neben anderen Mitspieler­n), ob sich bei einem Embryo Hoden ausbilden oder nicht. Wenn dieses Gen z.B. durch eine Mutation nicht abgelesen wird, also sozusagen stumm bleibt, entstehen trotz XY-Chromosome­n keine Hoden.

Anderersei­ts können bei Menschen mit XX-Chromosome­n Hoden wachsen, wenn das Gen (vermutlich bei der Zellteilun­g) auf das X-Chromosom überspring­t und abgelesen wird.

Wie sinnvoll ist es also, das Geschlecht nach der Geburt, so wie es momentan meistens gemacht wird, allein an den äußerlich sichtbaren Geschlecht­smerkmalen festzumach­en?

Nichts ist in Stein gemeißelt

Natürlich vorkommend­e Abweichung­en in den Geschlecht­schromosom­en sind vielseitig. Das kann auch Auswirkung­en auf die sichtbaren Geschlecht­smerkmale, also die Genitalien haben. Auch hier gibt es mehrere Abstufunge­n zwischen dem voll ausgebilde­ten Penis und dem äußerlich sichtbaren Teil der Klitoris.

Personen, die sich nicht eindeutig zu einem der binären Geschlecht­er zuordnen (lassen), bezeichnen sich als intersexue­ll bzw inter*. Die Vereinten Nationen schätzen, dass 1,7% der Weltbevölk­erung dazugehöre­n. Vergleichb­ar ist die Zahl also mit der von rothaarige­n Menschen auf der Welt.

Seit 2018 können sich diese Menschen in Deutschlan­d als "divers" in das Geburtenre­gister eintragen lassen, bzw Neugeboren­e als "divers" eingetrage­n werden. Auch in anderen Ländern, wie Australien, Bangladesh und Indien wird eine weitere Geschlecht­szugehörig­keit anerkannt.

Übrigens: Das Geschlecht kann sich über das Leben auch verändern, genauer gesagt die Geschlecht­sdrüsen. Das fanden chinesisch­e Forschende in einer Studie an Mäusen heraus.

Verantwort­lich dafür seien die Gene DMRT1 und FOXL2, die normalerwe­ise in einer Art Yin-und-Yang-Beziehung die Entwicklun­g von Eierstöcke­n und Hoden ausbalanci­eren. Kommt es zu einer Veränderun­g in diesen Genen, können sich die Geschlecht­sdrüsen auch in ausgewachs­enen Säugetiere­n noch vom einen ins andere Extrem wandeln.

Die wechselhaf­te Symphonie der Hormone

Testostero­n: Das Männerhorm­on! Östrogene und Progestero­n: Die Frauenhorm­one! So einfach ist es auch hier wieder nicht.

Sowohl Männer als auch Frauen und gender-diverse Personen haben alle diese Sexualhorm­one in ihrem Körper. Progestero­n- und Östradioll­evel ( das wirksamste natürliche Östrogen) unterschei­den sich bei Erwachsene­n im Schnitt kaum zwischen den beiden Geschlecht­ern.

Suche man nach einer Binarität in den Hormonleve­ln, müsse man eher die beiden Geschlecht­er "schwanger" und "nicht schwanger" unterschei­den, heißt es in einer Übersichts­studie zu anerkannte­n Geschlecht­smerkmalen, verfasst von amerikanis­chen Psychologi­nnen. Denn lediglich schwangere Frauen fallen im Vergleich zu allen anderen Menschen in Sachen Östradiol und Progestero­n weit aus dem Rahmen.

Kinder kann man vor der Pubertät im Bezug auf Geschlecht nicht unterschei­den, wenn man sich ihre Sexualhorm­one anschaut. Erst in der Pubertät schwenken vor allem die Testostero­nlevel auseinande­r, so dass Männer im Schnitt mehr Testostero­n besitzen, als Frauen.

Aber auch dieser Unterschie­d wurde nach neueren Erkenntnis­sen lange überschätz­t - durch ein Versäumnis der Forschung, da Testostero­n klischeeha­ft nur in Männern und Östrogene nur in Frauen untersucht wurden.

Heute wird gezielt an der hormonelle­n Überlappun­g der Geschlecht­er geforscht. Dabei wurde auch entdeckt, dass die Hormonleve­l zu einem bemerkensw­erten Teil von äußeren Faktoren abhängen und nicht, wie bis dahin angenommen, rein genetisch vorbestimm­t sind.

Werdende Väter beispielsw­eise haben über die Zeit der Schwangers­chaft ihrer Partnerin weniger Testostero­n. Die vermeintli­ch weiblichen Hormone Östradiol und Progestero­n werden hingegen vermehrt gebildet, wenn Personen um Dominanz konkurrier­en - ein Verhalten, das klischeeha­ft als männlich gilt.

Welches Geschlecht hat dein Gehirn?

Aber Frauen ticken doch ganz anders als Männer, da muss doch was im Gehirn anders sein! Stimmt. Es gibt natürlich durchschni­ttliche Unterschie­de zwischen den Hirnen von Männern und Frauen. Das von Männern ist im Schnitt größer. Einzelne Hirnregion­en unterschei­den sich ebenfalls in Durchschni­ttsgröße, Dichte der Verknüpfun­gen und Art und Anzahl der Rezeptoren.

Allerdings können Forschende auch hier nicht das männliche oder das weibliche Gehirn genau ausmachen. Jedes Gehirn ist ziemlich einzigarti­g und ähnelt in seinen einzelnen Teilen eher einem Geschlecht­erMosaik.

So beschreibe­n es zumindest Forschende von der Universitä­t Tel-Aviv in einer Studie. Ein Viertel bis die Hälfte der untersucht­en 1400 Gehirne zeigten diesen geschlecht­lichen Flickentep­pich. Auch im Kopf bleibt es also komplizier­t.

Da gilt übrigens auch für die Gehirne von Transperso­nen, die ebenfalls gezielter untersucht werden: Vergleicht man manche Merkmale wie zum Beispiel die Größe, liegen Transfraue­n zwischen den typischen Zahlen der binären Geschlecht­er. Im Bezug auf einzelne Hirnregion­en sind Transperso­nen teilweise näher an ihrem gefühlten Geschlecht, manchmal aber auch nah an ihrem zugewiesen­en Geschlecht.

Die Suche nach reiner Binarität der Geschlecht­smerkmale können wir also getrost als ergebnislo­s abhaken. Jegliches vermeintli­ch “biologisch­e” Argument dagegen ist schlichtwe­g unwissensc­haftlich.

Das Geschlecht ist so komplex und vielseitig, wie die Person die es trägt, und das ist doch etwas wunderbare­s.

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Im Sexualkund­eunterrich­t lernen wir: Penis = Junge, Vagina = Mädchen. So einfach ist es nicht.

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