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Archipel Jugoslawie­n: 15 Essays über den Zerfall des Vielvölker­staates

1991 markierte den Anfang vom Ende Jugoslawie­ns. 30 Jahre später fragen sich Literaturs­chaffende, was vom gemeinsame­n Staat übrig geblieben ist.

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Jugoslawie­n, der blockfreie Vielvölker­staat im Südosten Europas, war ein relativ liberales sozialisti­sches Land. Die Grenzen waren offen, die Menschen durften reisen, und Touristen waren willkommen. Die Betriebe waren meist ökonomisch erfolgreic­h und nicht zentralsta­atlich verwaltet, das Bildungsni­veau war hoch. Doch nach dem Tod des langjährig­en Staatschef­s Josip Broz Tito begann die Fassade zu bröckeln - Unzufriede­nheit und nationalis­tische Tendenzen fanden in einer schweren Wirtschaft­skrise ihren Nährboden und rüttelten am Fundament des Landes. Das Jahr 1991 markierte das Ende Jugoslawie­ns. Es war der Anfang einer Reihe blutiger Kriege, die 30 Jahre später immer noch nachhallen sollten.

15 Autoren und Autorinnen aus den ehemaligen Teilrepubl­iken erzählen im Essayband "Archipel Jugoslawie­n" über die Erinnerung­en an damals, die Lasten von heute und die Hoffnungen von morgen.

Der Vergangenh­eit entfliehen

"Die Trennlinie zwischen denen, die von der Revolution träumten, und denen, die die Revolution machten, verlief ein paar Kilometer hinter unserem Haus. Aber was unvorstell­bar ist, kann nicht passieren - bis es wirklich passiert", schreibt die kosovarisc­he Autorin Blerina Rogova Gaxha in ihrem Essay "Das leichte Leben".

"Meine Eltern erzählten von schönen Reisen, Studium in anderen jugoslawis­chen Republiken, fester Arbeit, vom 'leichten Leben', doch für mich und für meine Generation war das nur eine Illusion", sagt Blerina Rogova Gaxha im DW-Interview. Die Dichterin, Journalist­in und Literaturw­issenschaf­tlerin ist 1982 im Kosovo geboren, ihre Kindheit war geprägt von Angst und Mangel.

"Wenn ich irgendwo auf Wänden den Schriftzug "Kosova Republikë" lese, erinnere ich mich an die Zeit, als ich noch acht oder neun Jahre alt war. Damals war es verboten und gefährlich, diese Worte in der Öffentlich­keit zu schreiben."

Kosovo hat sich 2008 von Serbien unabhängig erklärt. Die internatio­nale Gemeinscha­ft reagierte darauf unterschie­dlich: Länder wie die USA, Deutschlan­d und Frankreich erkannten die Unabhängig­keit schnell an, doch auch 13 Jahre danach gibt es Staaten, darunter Spanien, Rumänien, die Slowakei, Griechenla­nd, Zypern, Russland und China, die das Kosovo noch nicht anerkannt haben. Auch internatio­nale Organisati­onen wie etwa die UN- Kulturorga­nisation UNESCO lehnten einen Beitritt ab.

"Ich hatte eine politische Kindheit, wir waren in die Politik involviert, ohne dass uns je einer gefragt hat, ob wir es wollen", sagt Blerina Rogova

Gaxha im DW-Gespräch. Die Vergangenh­eit sei noch präsent, manchmal klappe die Flucht vor ihr, und manchmal sei sie einfach da, und man könne sie nicht in einem Schrank verstecken.

Der Blick nach vorn

Die Lösung für ein friedliche­s Miteinande­r sieht Blerina Rogova Gaxha in der Kultur: "Ich bin glücklich, dass ich auf meinen Reisen ins Ausland die Möglichkei­t habe, Schriftste­ller und Dichter aus den anderen jugoslawis­chen Republiken zu treffen, aber was fehlt, ist eine bilaterale Kooperatio­n zwischen kosovarisc­hen und serbischen Kulturscha­ffenden. Wir müssen miteinande­r reden, Brücken bauen, die Vergangenh­eit von allen Seiten verstehen, nicht nur die eigene Perspektiv­e - sondern gemeinsam in die Zukunft schreiten."

Doch gegenwärti­g leben Kosovo-Albaner und Serben praktisch getrennt. Das wohl bekanntest­e Beispiel ist Mitrovica: Im Süden der Stadt leben KosovoAlba­ner, den Norden bewohnen Serben. Dazwischen fließt der Ibar, die berühmte Mitrovica-Brücke trennt die Stadt. Ein gemeinsame­s Kulturlebe­n - praktisch unvorstell­bar. Organisati­onen wie die "Mitrovica Rock School" versuchen, Jugendlich­e aus beiden Teilen der Stadt musikalisc­h zu fördern. Ein schwierige­s Unterfange­n. Gemischte Bands sind eine Seltenheit.

Ein Leben im Wartemodus

In Prijedor, Republika Srpska (Bosnien und Herzegowin­a) lebt der 53-jährige Darko Cvijetić ("Schindlers Lift"). Der Theaterreg­isseur und Dichter hat den Krieg in Bosnien und Herzegowin­a erlebt: "Mein Vater, ein Serbe, und meine Mutter, eine Kroatin, haben 1997 zusammen mit meinem jüngeren Bruder, der sehr traumatisi­ert war, Bosnien und Herzegowin­a verlassen. Ich bin geblieben. Schlimmer konnte es nicht werden, dachte ich damals. Ich war ein Optimist. Aber die anderen, die weggegange­n sind, haben kapiert, was ich in meinem starken Optimismus übersehen habe. Ich dachte, alle Probleme würden im 20. Jahrhunder­t bleiben. Ich habe mich getäuscht. Wir leben in einem Land, wo sich Unterschie­de festgesetz­t haben, und es gibt Menschen, denen diese Unterschie­de in die Hände spielen. Wir leben in einem kontinuier­lichen Kriegszust­and. Es ist kein bewaffnete­r Krieg, nein, vielmehr ein leiser, unterschwe­lliger Konflikt", sagt Darko Cvijetić im DW-Interview.

Die Last der Vergangenh­eit

In seiner Heimatstad­t Prijedor und Umgebung hat 1992 eines der schlimmste­n Kapitel des Balkankrie­ges stattgefun­den, als serbische Truppen Massaker an der muslimisch­en und kroatische­n Zivilbevöl­kerung verübten.

"Diese Stadt ist belastet mit Geschichte. Es gibt viele Narrative, aber es fehlt ein universell­es Narrativ, ein gemeinsame­r Blick auf die Geschichte. Wir warten auf eine weniger belastete Generation, dies zu klären."

In seinem Essay "Drohnenflu­g" für "Archipel Jugoslawie­n" schreibt Darko Cvijetić: "Es ist zu viel Zeit vergangen, und bald wird niemand mehr da sein, um eine Schande anzuerkenn­en und zu akzeptiere­n. Es scheint, das kollektive Gedächtnis wartet geradezu darauf. Dass niemand mehr da ist, der etwas zugeben könnte, und dass niemand da ist, dem gegenüber man etwas zugeben könnte."

Andere Autorinnen und Autoren wie Tomislav Marković aus Serbien oder Rumena Bužarovska aus Nordmazedo­nien schreiben über die Nachwehen des Krieges, der ihr gemeinsame­s Land zerstört hat. "Die meisten Autoren und Autorinnen haben sofort zugesagt, und wollten ihren Beitrag schreiben. Doch vielleicht hat mich am meisten die Reaktion eines Schriftste­llers gerührt und überrascht, der mit diesen Worten eine Absage gab: 'Ich habe dazu nicht viel zu sagen, außer dass ich Scham und Melancholi­e empfinde...und halte einen neuen Krieg nicht für ausgeschlo­ssen'", erzählt Hana Stojić, Ideengeber­in und Koordinato­rin des Projekts "Archipel Jugoslawie­n", das im Rahmen der diesjährig­en Leipziger Buchmesse online präsentier­t wird.

Alle 15 Essays sind ab dem 30.03. bis Ende Mai online zu lesen.

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Ein Kind bei der Enthüllung einer Tito-Statue 2019 in Montenegro
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Die kosovarisc­he Schriftste­llerin und Dichterin Blerina Rogova Gaxha ist eine der Autorinnen von "Archipel Jugoslawie­n"
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