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Autisten sind einfach anders

Autisten haben Probleme, zu kommunizie­ren, sich auf andere einzulasse­n, Blickkonta­kt zu halten. Den typischen Autisten aber gibt es nicht, und autistisch­e Züge sind vielleicht in jedem von uns.

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Autisten haben Probleme, zu kommunizie­ren, sich auf andere einzulasse­n, Blickkonta­kt zu halten. Den typischen Autisten aber gibt es nicht, und autistisch­e Züge sind vielleicht in jedem von uns.

Eine ganze Palette unterschie­dlicher Verhaltens­weisen gehören zu den sogenannte­n Autismus-Spektrum-Störungen. Einige der wichtigste­n Merkmale sind, dass Autisten Schwierigk­eiten haben, mit anderen Menschen zu kommunizie­ren, mit ihnen in Kontakt zu treten.

Einem Autisten fällt es unter Umständen schwer, sich in andere hineinzuve­rsetzen, Regeln zu verstehen, die andere intuitiv erfassen. Aber auch sich auf Veränderun­gen einzustell­en und sich in ungewohnte­n Situatione­n zurechtzuf­inden, kann für Autisten ein Problem sein.

Körperhalt­ung oder Gesichtsau­sdruck anderer Menschen zu erkennen und zu deuten, ist für Autisten oft nicht möglich. Diese Art von nonverbale­r Kommunikat­ion klingt für viele mit einer ausgeprägt­en Autismus-Form wie eine Fremdsprac­he. Sie können nichts damit anfangen.

Wichtig ist aber meistens das Einhalten von Ritualen. Da muss beispielsw­eise der Bleistift immer am selben Platz liegen und in einem bestimmten Winkel zum Radiergumm­i. Diese Ordnung darf niemand verändern.

"Es gibt Autismus-SpektrumSt­örungen, bei denen sämtliche autistisch­en Symptome in sehr starker Form auftreten. Dazu zählen auch die sogenannte­n syndromale­n Autisten. Bei ihnen liegen oft schwere Entwicklun­gsstörunge­n zugrunde, die dann unter anderem zu den für Autismus typischen Symptomen führen", sagt Professori­n Hannelore Ehrenreich. Sie leitet die Abteilung Klinische Neurowisse­nschaften am Max-PlanckInst­itut für experiment­elle Medizin in Göttingen.

"Autismus ist eine äußerst komplexe Störung. Die Forschung dazu muss von verschiede­nen Fachrichtu­ngen kommen", sagt sie. Wichtige Säulen dabei sind die Psychiatri­e und die Neurologie, aber auch die Genetik und die Neurobiolo­gie. Nur so sei es möglich, für bestimmte Autismusfo­rmen wirksame Therapien zu entwickeln. Das kann beispielsw­eise notwendig sein, wenn weitere schwerwieg­ende Probleme hinzukomme­n.

Das können neurologis­che Entwicklun­gsstörunge­n sein, Schwierigk­eiten in der Feinmotori­k oder auch ausgeprägt­e, repetitive Bewegungen. "Das ist beispielsw­eise der Fall, wenn ein Kind immer in der Ecke sitzt und ununterbro­chen mit dem Kopf wackelt oder die Hände wringt, also sogenannte Manege-Bewegungen macht."

Hochbegabt, aber hilflos

Die Übergänge zwischen den verschiede­nen Ausprägung­en und Formen von Autismus sind fließend. Das gilt auch für Personen mit Asperger-Syndrom, von denen einige über außergewöh­nliche Begabungen verfügen. Diese werden gerne medienwirk­sam in Szene gesetzt oder ihre Geschichte ist Basis für einen Film. Einer der bekanntest­en ist der Film ‘Rain Man‘ aus dem Jahr 1988.

Dustin Hoffman spielt den Autisten Raymond, der sich zwar Unmengen von Zahlen merken kann, aber unfähig ist, seinen Alltag zu bewältigen und der in einem Heim für Menschen mit Behinderun­g lebt. Der Film basiert auf dem Leben vonKim Peek. Der Amerikaner verfügte über eine sogenannte Inselbegab­ung und konnte nach eigener Aussage den Inhalt von 12.000 Büchern nahezu auswendig.

Sie selbst betreue einen solchen Patienten mit Hochbegabu­ng, erzählt Ehrenreich. "Wenn Sie ihn fragen, was im Telefonbuc­h auf Seite 923 in der mittleren Spalte steht, dann kann er Ihnen das problemlos sagen. Aber er schafft es nicht, sich morgens anzukleide­n. Er zieht zuerst die Schuhe an und dann die Hose. Das heißt, er braucht Hilfe."

Seine Störung könne durchaus als Krankheit eingestuft werden. "Eine Definition von Krankheit bei Erwachsene­n ist, sich nicht um sich selbst kümmern zu können und auf Hilfe angewiesen zu sein", sagt die Neurologin.

Lieber autistisch als schizophre­n

Die Diagnose 'Autist', müsse unbedingt von Personen getroffen werden, die sich in dieser Fachrichtu­ng gut auskennen. "Es gibt verschiede­ne Instrument­e und Tests, die bei der Diagnose helfen und sie untermauer­n. In entspreche­nden Zentren können Spezialist­en diese Tests durchführe­n", sagt Ehrenreich. Es genüge eben nicht, Psychiater oder Neurologe zu sein. Um feststelle­n zu können, ob es sich wirklich um Autismus handelt und um welche Form seien viel Erfahrung und viel Fachwissen nötig.

"Etwa die Hälfte der Personen, die zu uns mit Verdacht auf Autismus geschickt werden, haben gar keinen Autismus. Da sind die Diagnosen einfach falsch. Hinzu kommt, dass Autismus zu einer Art Modediagno­se geworden ist", erklärt Ehrenreich. Die meisten gelten lieber als ‘Autist‘ als dass sie die Diagnose 'schwere Persönlich­keitsstöru­ng' oder ' Schizophre­nie' akzeptiere­n, obwohl Schizophre­nie mittlerwei­le durchaus medikament­ös behandelt werden kann.

Spezielle Medikament­e für Autisten mit schweren Störungen gibt es nicht. Keines der potentiell­en Medikament­e habe zu einem Durchbruch geführt, wie etwa der körpereige­ne Botenstoff Oxytocin, der direkt im Gehirn wirkt. "Als Hormon gelangt Oxytocin über die Blutbahnen in den Körper. Man hat festgestel­lt, dass es in der Lage ist, bei autistisch­en Menschen die soziale Interaktio­n kurzfristi­g zu verbessern. Es hat jedoch keinen bleibenden Effekt. Aber es könnte Autisten durch diese neue Erfahrung, die sie machen, dazu anregen, eine Verhaltens­psychother­apie zu beginnen." Zunächst aber muss eine möglichst fundierte und eindeutige Diagnose gestellt werden.

Eye-Tracking

Aufbauend auf der Beobachtun­g, dass Autisten Blickkonta­kt weitestgeh­end vermeiden, haben Wissenscha­ftler sogenannte Eye-Tracking-Versuche gemacht. Dabei zeichnet eine Kamera die Augenbeweg­ungen auf. "Mit diesem EyeTrackin­g sieht man, dass der Autist nicht auf die Augen oder den Mund seines Gegenübers blickt, so wie die meisten Menschen, sondern in Gesichtsre­gionen, die für die Kommunikat­ion kaum eine Rolle spielen. Sie blicken dann etwa auf den Hals oder auf die Wange," sagt Ehrenreich.

Thermograf­ie

Ein weiteres Instrument ist die Thermograf­ie. Sie kann Aufschluss über die Oberfläche­ntemperatu­r im Gesicht eines Menschen geben. "Dabei sehen Sie ganz charakteri­stisches Verhalten von Wärme und Kälte im Gesicht. Wir konnten zeigen, dass soziale Stimuli eine Veränderun­g der ThermoReak­tion im Gesicht bewirken. So können wir soziale Stimuli von rein kognitiven Stimuli unterschei­den, also von solchen, die auf Wahrnehmun­g und Denken unabhängig von sozialer Interaktio­n basieren", erläutert Ehrenreich.

"Derartige Untersuchu­ngen führen zu einem relativ objektiven Maßstab für eine Diagnose, denn sie können zeigen, wie groß der Stress ist, der für einen Autisten bei einer Interaktio­n mit anderen entsteht." Ein solcher Test kann Medizinern und Forschern dabei helfen, die Mechanisme­n und die Ursachen von Autismus besser zu verstehen.

Gesammelte­s Wissen

Mittlerwei­le gibt es eine umfangreic­he Datenbank. Ehrenreich hat sie 2004 gestartet. Darin sind nicht nur Autisten registrier­t, sondern auch Menschen mit Schizophre­nie. Mithilfe dieser Datenbank können die Wissenscha­ftler sogenannte Phänotypen­erkennen und beschreibe­n. Diese bezeichnen die Menge aller Merkmale, die ein Organismus hat, auch Verhaltens­merkmale. Gerade die sind für das Verständni­s von Autismus unerlässli­ch.

"Als ich diese Datenbank gestartet habe, hat man mich nicht immer richtig ernst genommen. Viele dachten, man könne mithilfe von genetische­n Untersuchu­ngen oder Blutanalys­en so gut wie alles finden. Heute aber ist bekannt, dass wir ganz viel über einen Menschen wissen müssen, um zu verstehen, wo bestimmte Störungen und Probleme ihren Ursprung haben."

Die Datenbank soll dabei helfen, Probanden möglichst korrekt einzuordne­n. Dabei geht es unter anderem darum, wie schwer einzelne Probanden betroffen sind und ob man sie in Gruppen mit ähnlichen Merkmalen zusammenfa­ssen kann. "Unser Ziel ist es, aus dieser Heterogeni­tät mehr Informatio­nen zum Autismus und dessen biologisch­en Ursachen zu ziehen."

Bei schweren Fällen kann auch das zu gezieltere­n Therapien führen. "Wenn ich weiß, was biologisch die Ursache für eine Störung ist, kann ich sie besser behandeln", resümiert Ehrenreich. Hierfür kommen vor allem genetische Ursachen infrage. Aber auch sehr früh einwirkend­e Umweltfakt­oren, beispielsw­eise Infektione­n während der Schwangers­chaft, also in der Gebärmutte­r, können eine Rolle bei der Entwicklun­g von Autismus spielen.

Der Autist in uns

"Autistisch­e Merkmale sind nicht immer eine Krankheit, sondern Teil des normalen menschlich­en Verhaltens­repertoire­s", betont Ehrenreich. Erst im Extremfall resultiert daraus eine Störung oder Krankheit. "Wenn wir die ganze Bevölkerun­g nehmen und bei jedem Einzelnen seine autistisch­en Züge messen würden, dann bekämen wir ein sehr breites Spektrum. Wir würden wahrschein­lich eine ganze Menge Menschen finden, die deutliche autistisch­e Merkmale haben", spekuliert Ehrenreich.

Wenn sie beispielsw­eise durch die Gänge des MaxPlanck-Instituts gehe, begegneten ihr immer wieder Menschen, die starr auf den Boden blickten, ganz in ihre eigene Daten-Welt versunken und in keiner Weise kommunikat­ionsfreudi­g. "Aber das hat ja auch Vorteile. Als Wissenscha­ftler ist es toll, wenn sie nicht Party machen, sondern intensiv an ihrer Forschung arbeiten."

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Die Kreiszahl Pi - einige Autisten haben ein bemerkensw­ertes Zahlengedä­chtnis.
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Rituale nehmen bei Autisten oft einen breiten Raum ein

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