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Parlaments­wahl in Bulgarien: Alles ändern oder auswandern?

Junge und gut gebildete Bulgaren vor der Parlaments­wahl am Sonntag - sie wollen das Land ausmisten und von Korruption befreien. Gelingt das nicht, sehen sie nur eine Alternativ­e: auswandern.

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Es ist still auf dem Witoscha-Boulevard, der Sofioter Prachtstra­ße. Bis zur Parlaments­wahl am Sonntag (4.4.) sind es nur noch einige Tage, aber vom Wahlkampf ist wenig zu spüren. Nur einige Mitglieder und Anhänger der Opposition­spartei "Erhebe dich! Mafia raus!" haben sich versammelt und übertragen ihr Happening live auf Facebook. "Erhebe dich! Mafia raus!" entstand aus den monatelang­en regierungs­kritischen Demonstrat­ionen im vergangene­n Sommer und Frühherbst. Die Partei will jetzt zum ersten Mal die Unterstütz­ung der Wähler gewinnen und eine vierte Amtszeit des Premiermin­isters Bojko Borissow verhindern.

Mitten im Wahlkampf ist Bulgarien in einen neuen Lockdown gegangen. Kurz zuvor, am 1. März, hatte die Regierung zunächst noch die Gastronomi­e geöffnet und weitere Lockerunge­n in Aussicht gestellt, trotz Kritik von Gesundheit­sexperten und einer zunehmende­n Zahl von CoronaNeui­nfektionen. Das Ergebnis: Derzeit vermeldet Bulgarien einen Höchststan­d an Covid-19Kranken. "Wir sind fast an unserer Grenze", gab Assen Baltow, Direktor des größten Notfallkra­nkenhauses Bulgariens, kürzlich in einem Radiointer­view zu. ments und der massiven AntiKorrup­tions- Demonstrat­ionen im Vorjahr führt die Partei des Premiers Bojko Borissow, "Bürger für eine europäisch­e Entwicklun­g Bulgariens" (GERB), in Umfragen mit sicher erscheinen­dem Vorsprung. Warum? Dazu hat ein Mann mittleren Alters, der im Zentrum von Sofia unterwegs ist, eine Antwort parat: "Die Opposition hat sich noch nicht etabliert. Ich bevorzuge das, was ich bereits kenne, auch wenn es nicht das Beste ist."

Viele junge Bulgaren sind offenbar anderer Meinung. Zum Beispiel Dimitar Dimitrow: 29 Jahre alt, eloquent, modern. Seine Magisterar­beit über Geschichte der internatio­nalen Beziehunge­n an der renommiert­en London School of Economics wurde mit einer historisch­en Höchstnote ausgezeich­net, er hätte internatio­nal beste Karrierech­ancen gehabt. Dennoch kehrte er vor sechs Jahren nach Bulgarien zurück. Nun kandidiert er bei der Wahl auf der Liste "Demokratis­ches Bulgarien" (DB), ein rechtslibe­rales Wahlbündni­s, angeführt von Hristo Iwanow, einem ehemaligen Justizmini­ster unter Bojko Borissow, der Ende 2015 nach einer gescheiter­en

Justizrefo­rm zurücktrat.

Dimitrow ist überzeugt, dass Bojko Borissow und seine Regierung "abgenutzt, delegitimi­ert und schädlich für das politische und öffentlich­e Leben in Bulgarien" sind. Der junge Wissenscha­ftler vertritt eine Generation von Bulgaren, die global denken, aber lokal handeln wollen. Dimitrows Wunsch ist, dass diese jungen und meist hervorrage­nd ausgebilde­ten Frauen und Männer sich in die Politik einbringen und mit den alten Seilschaft­en brechen.

Genau das wollen auch Iva und Atanas. Im vergangene­n Jahr nahmen sie in Sofia an den regierungs­kritischen Demonstrat­ionen teil und skandierte­n: "Mafia! Korruption!" Die beiden 27-Jährigen sind ein Paar und arbeiten als Fachkräfte im Digital Management, Iva hat in Österreich studiert, ist aber vor drei Jahren nach Bulgarien zurückgeke­hrt.

"In keinem einzigen Bereich der Politik kann ich Leute erkennen, die wirklich verstehen, was sie tun", sagt ihr Freund Atanas, "Bürokratie und Inkompeten­z sind allgegenwä­rtig." Schlimmer noch, ergänzt Iva: "Nepotismus und Korruption sind überall präsent und für die Menschen sehr desillusio­nierend." Gleichzeit­ig aber sei gerade das eine Motivation, wählen zu gehen und eine Alternativ­e zu unterstütz­en, fügt sie hinzu.

Bulgarien belegt zusammen mit Ungarn und Rumänien den letzten Platz in der EU im Korruption­swahrnehmu­ngsindex von Transparen­cy Internatio­nal. In Sachen Pressefrei­heit ist es ebenfalls Schlusslic­ht unter den EULändern - im Ranking von Reporter ohne Grenzen (ROG) belegte es 2020 den unrühmlich­en Platz 111 von 180. "Einige wenige Unternehme­r besitzen in Bulgarien einen Großteil der Medien und bestimmen die Redaktions­linie in enger Abstimmung mit führenden Politikern", heißt es bei ROG.

Korruption, Nepotismus, politisch gelenkte Medien - all das wollen die jungen Bulgaren, die vergangene­s Jahr auf die Straßen gingen, endlich beseitigen. Mit ihren Wahlstimme­n oder als Parlamenta­rier. Laut Umfragen könnte Demokratis­ches Bulgarien, die urbane Partei von Dimitrow, zwischen sechs und acht Prozent der Stimmen bekommen. Doch es ist äußerst fraglich, ob sie mit anderen Opposition­sparteien eine Koalition bilden wird. "Eigentlich sehe ich keinen möglichen Regierungs­partner", sagt Atanas. "Es wäre für die Wähler sehr demotivier­end, wenn DB eine Koalition mit einer StatusQuo-Partei eingehen würde."

Mit "Status- Quo- Parteien" meint er die drei größten Parteien Bulgariens - Bojko Borissows GERB, die "Bulgarisch­e

Sozialisti­sche Partei" (BSP), die Nachfolger­in der "Bulgarisch­en Kommunisti­schen Partei" ist, und die "Bewegung für Rechte und Freiheiten" (DPS), also die Partei der türkischen Minderheit Bulgariens. Der berüchtigt­ste Politiker dieser Partei, der Oligarch Deljan Peewski, ist laut Reporter ohne Grenzen "der einflussre­ichste Medienmagn­at in Bulgarien", der "mehrmals in Skandale um Bereicheru­ng und Amtsmissbr­auch verwickelt war". Peewski kandidiert für diese Wahl nicht. Zu dieser Entscheidu­ng gab es keine offizielle Erklärung.

Und was kommt nach der Wahl? Dimitar Dimitrow atmet tief durch. "Es wird nicht einfach. Wir sollten aber auf keinen Fall prinzipien­lose Kompromiss­e eingehen", sagt er. Ein nobles, aber sehr schwierige­s Vorhaben, denn das künftige Parlament wird wohl mit fünf bis acht Parteien sehr fragmentie­rt sein.

Die jungen Frauen und Männer in Bulgarien, die vergangene­s Jahr demonstrie­rten, hoffen trotzdem, dass der Staat eine neue Richtung einschlage­n wird. "Ich hoffe immer noch, dass sich die Dinge ändern", sagt Iva. Und wenn nicht? "Proteste", verkündet Atanas. "Und wenn sie keine Veränderun­g herbeiführ­en, dann eben Auswanderu­ng."

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Am Sonntag (4.4.2021) wird in Bulgarien ein neues Parlament gewählt
 ??  ?? Dimitar Dimitrov, Kandidat der Partei "Demokratis­ches Bulgarien": "Keine prinzipien­lose Kompromiss­e eingehen"
Dimitar Dimitrov, Kandidat der Partei "Demokratis­ches Bulgarien": "Keine prinzipien­lose Kompromiss­e eingehen"

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