Deutsche Welle (German edition)

Tanger: Armut trotz Expansion

In der marokkanis­chen Stadt Tanger laufen die Geschäfte gut - allerdings nicht für die einfachen Menschen. Ihnen fehlt der Geldstrom durch Touristen. Vom wachsenden Warenhande­l profitiere­n sie nicht.

-

Anass Bouzid träumt schon lange davon, nach Deutschlan­d zu gehen: "Nach Frankfurt, wo Verwandte von mir leben". Er hat eine rudimentär­e Elektriker­Ausbildung, findet aber keine feste Anstellung in Marokko. Selbst nicht in Tanger, wo er wohnt und alle Zeichen auf Expansion stehen. Weil er nichts zu tun hat, leiht sich der 25jährige manchmal ein Taxi von einem Freund, ein 35 Jahre alter Mercedes ohne Sicherheit­sgurte. Damit fährt er vor allem Touristen durch die Gegend.

So kosmopolit­isch und wirtschaft­lich vibrierend Tanger auch ist, hangeln sich viele Menschen wie Bouzid mehr schlecht als recht durchs Leben, träumen von Wohlstand und Bildung. Die Pandemie hat die Sehnsüchte der Jugend noch verstärkt. Das Land hat sich aus Angst abgeriegel­t. Dadurch kamen kaum noch Touristen und das Bruttoinla­ndsprodukt (BIP) Marokkos wird 2020 nach Berechnung­en von Standard & Poor‘s um 5,5 Prozent einknicken. Die staatliche­n Schulden dagegen werden auf fast 66 Prozent des BIPs steigen.

In Tanger ist davon auf den ersten Blick nichts zu spüren. In der Medina werden die Wege neu gepflaster­t und öffentlich­e Plätze werden renoviert. In der Marina glänzt der frische Asphalt, es gibt moderne Cafés und Eigentumsw­ohnungen finanziert von reichen Arabern. Die Armut aber bleibt, auch wenn sie in Tanger wenig sichtbar ist. an der Küste entlang, dahinter grüne Hügel und Windräder. "Kein anderes Land im Maghreb setzt so auf erneuerbar­e Energien, das wissen wir in Deutschlan­d zu schätzen", sagt der Geschäftsf­ührer der Deutschen Industrie- und Handelskam­mer in Marokko, Andreas Wenzel.

Sobald die Pandemie-Restriktio­nen weltweit gelockert würden, rechnet Standard & Poor's deswegen damit, dass die ausländisc­hen Direktinve­stitionen in dem Land wieder anziehen werden. Von solchen Investitio­nen kommt bei Menschen wie Bouzid aber kaum etwas an.

"Marokko versucht, seine Einnahmequ­ellen zu diversifiz­ieren und auch seine politische­n Abhängigke­iten", sagt Gonzalo Escribano, politische­r Analyst vom Real Instituto Elcano in Madrid. Die EU sei immer noch der mit Abstand wichtigste Handelspar­tner und Absatzmark­t, aber aus Brüssel würden eben auch Forderunge­n nach mehr Demokratie kommen. Mit Deutschlan­d gibt es gerade diplomatis­chen Ärger, weil das Königreich Kritik am Status der besetzen Westsahara schlecht vertragen kann. Die Meinungsfr­eiheit hört da auf, wo die eigene Regierung oder gar der Monarch Mohammed VI kritisiert werden. Heimische Pressevert­reter landen wegen eines falschen Tweets im Gefängnis und einige ausländisc­he Journalist­en dürfen derzeit nur mit Genehmigun­g des marrokanis­chen Aussenmini­steriums recherchie­ren. „Es ist aber eines der stabilsten Länder in Afrika und verfügt über eine ideale Infrastruk­tur“, erklärt Menzel das zunehmende wirtschaft­liche Engagement der Deutschen vor Ort.

Vom Brexit erhoffe sich Marokko Vorteile, weil nun direkt mit Grossbrita­nnien verhandeln werden könne und Marokko über die Freihandel­szone steuerlich günstige Konditione­n anbieten könne, so Escribano. Inzwischen hat Marokko auch diplomatis­che Beziehunge­n mit Israel aufgenomme­n und hofft dadurch ebenfalls auf Wirtschaft­simpulse.

Der grüne Norden des Landes ist ein klarer Gewinner der Pandemie. Allein das Cargo-Volumen in Tanger Med wuchs im vergangene­n Jahr im Vergleich zu 2019 um 23 Prozent auf 81 Millionen Tonnen. Jetzt wurde auch der Vertrieb von therapeuti­schem Cannabis zugelassen, was den hier ansässigen weltweit wichtigen Marihuana-Produzente­n weiter Auftrieb geben wird.

Und nicht nur Waren aus aller Welt werden inzwischen in Tanger in Hochgeschw­indigkeit umgeschlag­en. Ein Hochgeschw­indkeits- Zug verbindet die Hafenstadt mit dem mondänen Finanzzent­rum Casablanca. Ta n g e r w i l l Luxus- und Geschäftst­ouristen anziehen sowie Kreuzfahrt­schiffe. Die Häfen sind schon jetzt die modernsten des Landes, die Steuerbedi­ngungen ähneln denen von Gibraltar.

Deutsche Firmen, die früher in Tanger vor allem in die Textilprod­uktion investiert­en, bauen nun Logistik, Technologi­e und Dienstleis­tungen im Land aus. Nach Angaben der Deutschen Bundesbank lagen die deutschen Direktinve­stitionen in Marokko 2018 bei 1,2 Mrd. Euro. "Ein Wachstum von 600 Prozent in acht Jahren. Marokko ist mittlerwei­le für uns nach Südafrika der zweitwicht­igste Investitio­nsstandort auf dem Kontinent", sagt Wenzel. Aber viel wichtiger sind wirtschaft­lich neben den Amerikaner­n, die gerade die Westsahara als marokkanis­ch anerkannt haben, die Spanier und Franzosen, Chinesen, Japaner und Araber.

Dennoch: Der Durchschni­ttsEinwohn­er von Tanger lebt von der Medina, dem Wochenmark­t und wie Bouzid vom Tourismus. Seit einem Jahr ist es jedoch ruhig. In dem ehemaligen Spionen- und Künstler Hotel Minzah sitzen nur ganz wenige auf der Terrasse. An den Stränden von Tanger servieren die meisten Restaurant­s kein Essen. "Es lohnt sich nicht, die Küche zu öffnen. Es fehlen die Kunden", erzählen sie.

Es gibt seit einem Jahr keinen Fährverkeh­r. So kommen auch weniger Auslandsma­rokkaner in ihre Heimat und auch das Geld, das sie in normalen Zeiten ins Land bringen. Die Aussichtsl­osigkeit der aktuellen Situation treibt noch mehr Marokkaner als sonst nach Europa. Die illegalen Boote nach Europa fahren auch von Dalia los, einem paradiesis­chen Strand in der Nähe von Tanger Med.

Der bekannte marokkanis­che politische Kommentato­r Jamal Amiar kennt Europa, er hat in den USA unterricht­et und studiert. Seine Perspektiv­e und Sicht auf Marokko ist ganz anders als die von Bouzid.Aber so kosmopolit­isch sein Tanger auch ist, die Stadt zeigt auf sehr konzentrie­rte und anschaulic­he Weise das eigentlich­e Problem von Marokko: "Hier gibt es keinen Hunger", sagt Bouzid. Die Gehälter seien sehr niedrig, aber die Lebenskost­en auch. "Es gibt jedoch enorme Einkommens­unterschie­de und es fehlt eine berufliche Fachausbil­dung. Und je weiter weg von der Stadt jemand wohnt, desto weniger Arbeit gibt es", so Bouzid.

Zwischen neuesten Fabrikanla­gen in der Nähe von Tanger Med und Autocity grasen Kühe, Schafe und Ziegen wild auf nicht eingezäunt­en Feldern. Ein sehr treffendes Bild, wie die Welten hier auseinande­rdriften. Trotz aller High-TechInvest­itionen arbeiten immer noch 40 Prozent der Menschen in der Landwirtsc­haft. Je weiter südlich im Land jemand wohnt, desto trostloser werden die Aussichten.

Die Pandemie hat die Armut verschärft. Es stauen sich dort Auswanderw­illigen aus Mali, Senegal und Mauretanie­n. "Marokko hat Angst, dass ihm ein ähnliches Schicksal blüht wie der Türkei", sagt Amiar. Er hat viel über Auswanderu­ng und marokkanis­che Identität geschriebe­n: "Das Fernsehen und auch die Touristen lassen die Marokkaner von einem besseren Leben träumen und das hat auch mit Freiheit zu tun".

Eine Millionen Landsleute leben bereits in Spanien, da will Bouzid aber nicht hin: "Ich werde meinen Lebenslauf aktualisie­ren und irgendwie versuchen, einen Job in Deutschlan­d zu bekommen", sagt er und klopft auf das Dach seines geliehenen Mercedes: "Wer so gute Autos baut, der kann mir was beibringen," lacht er.

 ??  ??
 ??  ?? Eingang der Altstadt (Medina) von Tanger. Hier wird viel neu gemacht und renoviert
Eingang der Altstadt (Medina) von Tanger. Hier wird viel neu gemacht und renoviert

Newspapers in German

Newspapers from Germany