Deutsche Welle (German edition)

Meinung: Corona-Politik ohne Solidaritä­t

In Deutschlan­d sollen Geimpfte bald Freiheiten zurückbeko­mmen. Dabei müssen Millionen noch bis zum Ende des Sommers auf ihre Impfung warten. Es droht ein Generation­enkonflikt, meint Anja Brockmann.

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Wenn man sich in Deutschlan­d in der Pandemie bisher auf eines verlassen konnte, dann auf die große Bereitscha­ft der Bevölkerun­g, in dieser Krise zusammen zu stehen, die Schwachen zu schützen und dafür selbst große Einschränk­ungen hinzunehme­n. Solidaritä­t hält das Land zusammen in Zeiten, in denen die Pandemiebe­kämpfung mehr von Wahlkampf geprägt ist als von politische­r Vernunft oder wissenscha­ftlicher Erkenntnis. völlige Rückgabe aller Grundrecht­e für Geimpfte. Reisen, Restaurant­besuch, Konzerte, Fitnessstu­dio - alles könnte für sie schon bald wieder möglich sein.

Ja, Grundrecht­e sind ein hohes Gut. Sie einzuschrä­nken, muss die Ausnahme bleiben. Und ja, bei einem Volk von über 80 Millionen kann damit nicht gewartet werden, bis auch die Letzten geimpft sind. Aber muss diese Diskussion wirklich gestartet werden mitten in der dritten Welle, in der die Intensivst­ationen überlastet werden? Sollte man sie starten zu einem Zeitpunkt, zu dem - als Ergebnis politische­r Entscheidu­ngen - gerade mal sechs Prozent vollständi­g geimpft sind?

Und war es nicht auch Jens

Spahn, der noch Ende 2020 gesagt hat, dass die, die solidarisc­h warten, damit andere als Erste geimpft werden können, auch erwarten dürften, dass sich die Geimpften solidarisc­h gedulden? Rückblicke­nd muss man argwöhnen, dass dieser Satz nur eine Beruhigung­spille war, aber keine politische Überzeugun­g.

Millionen von Menschen in Deutschlan­d zwischen 16 und 59 Jahren werden frühestens im Juli eine Impfung bekommen, nicht wenige werden bis September warten müssen. Diese sogenannte­n Nicht-Priorisier­ten, die Gesunden, die Jüngeren, haben alle Einschränk­ungen überwiegen­d klaglos mitgetrage­n.

Sie managen Homeschool­ing und Homeoffice am Küchentisc­h, sie übernehmen die Einkäufe für ihre älteren Nachbarn, sie warten das zweite Jahr in Folge vergeblich auf einen Ausbildung­splatz. Das Virus ist für sie vergleichs­weise weniger tödlich, aber auch ihnen drohen bei einer Infektion langjährig­e gesundheit­liche Schäden. Und: Sie warten nicht nur länger auf den Impfschutz, sondern auch auf ihre Grundrecht­e.

Das ist eine Ungleichhe­it, die sich auch mit Testen nicht aus der Welt schaffen, sondern allenfalls mildern lässt. Und zwar nur, wenn die Politik endlich dafür sorgt, dass es jederzeit und durchweg kostenlose Testmöglic­hkeiten gibt. Beides ist nicht der Fall.

Einmal pro Woche kann man kostenlos einen offizielle­n Schnelltes­t vornehmen lassen, um wenigstens für ein paar Stunden Freiheiten zu genießen, jeder weitere Test kann bis zu 39 Euro kosten, die Preise variieren je nach Region. Nicht jeder und jede wird sich seine Grundrecht­e täglich leisten können, ebenso wenig längere Quarantäne­zeiten nach Urlauben. Das Ausgeschlo­ssensein produziert nicht Neid, wie die Politik weismachen will, sondern Ungerechti­gkeit.

Dabei gibt es einen anderen Weg, der solidarisc­h und epidemiolo­gisch sinnvoll ist. Würde man, wie in Kanada oder Großbritan­nien, den Abstand zwischen erster und zweiter Impfung vergrößern, könnten bis Ende Juni alle Impfwillig­en in Deutschlan­d ihre Erstimpfun­g erhalten und einen sehr hohen Schutz vor dem Virus haben. Das würde die Intensivst­ationen massiv entlasten, Flucht-Mutationen verhindern und schneller allen zu ihren Grundrecht­en verhelfen.

Für diese Alternativ­e aber braucht es eine mutige Entscheidu­ng der Politik. Darauf darf man in Deutschlan­d derzeit nicht wirklich hoffen. Die Jüngeren aber werden nicht vergessen, wer ihnen die Solidaritä­t aufgekündi­gt hat. Und im schlimmste­n Fall der Politik ganz den Rücken kehren.

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Die Debatte um Impf-Privilegie­n kommt zu einer Unzeit und gefährdet die Solidaritä­t in Deutschlan­d
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DW-Redakteuri­n Anja Brockmann

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