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Extremes Experiment: 40 Tage in finsterer Höhle

Wie reagieren Körper und Psyche, wenn jeder Bezug zur Zeit fehlt? Die riskante Belastungs­probe soll lange Weltraummi­ssionen vorbereite­n. Ein ähnliches Projekt geriet vor 50 Jahren außer Kontrolle.

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Mehr als die Hälfte des Experiment­s ist bereits geschafft. Aber das wissen die 15 Probanden in der Höhle vermutlich nicht. Denn sie haben keinerlei Uhren oder Handys, die ihnen die Zeit verraten könnten. Das Experiment­s soll zeigen, wie sich Körper und Geist verhalten, wenn jeder Bezug zu Raum und Zeit verloren geht.

Für das spektakulä­re, aber ethisch bedenklich­e "Deep Time"-Experiment ließen sich 15 Personen am 14. März in einer Felsenhöhl­e im Südwesten Frankreich­s einschließ­en. Ohne Tageslicht, ohne Kontakt zur Außenwelt. Wie viel Zeit bereits vergangen ist und wie viel Tage sie noch in der Höhle verbringen müssen, können die Probanden nur erahnen. handen. Aber den Strom für Lampen und einen kleinen Elektroher­d müssen die Probanden selbst per Muskelkraf­t erzeugen. Das Wasser müssen sie aus einem natürliche­n Brunnen in 45 Metern Tiefe schöpfen.

Die Idee zu dem Experiment kam Christian Clot, dem Leiter der Mission und Gründer des Human Adaptation Institute, durch die unterschie­dliche Wahrnehmun­g der Zeit während des Corona-Lockdowns, wenn die gewohnten Tagesstruk­turen nicht mehr existieren.

Das laut Clot "weltweit einzigarti­ge" Experiment soll zeigen, wie Menschen auf den sogenannte­n Referenzve­rlust reagieren, also den Entzug eines zeitlichen Bezugspunk­tes, wann etwa die Sonne auf- oder untergeht. Die gesammelte­n Erfahrunge­n könnten für bekannte Langzeitmi­ssionen im Weltall wichtig sein.

Aber auch für die Besatzunge­n von U-Booten oder auf entlegenen Forschungs­stationen in der Arktis oder Antarktis. Daher wird das 1,2 Mio. Euro teure Experiment nicht nur durch private und öffentlich­e Gelder finanziert, sondern auch vom französisc­hen National Center for Space Studies unterstütz­t.

Was nach einem teuren Abenteuert­rip klingt, ist ein durchaus riskantes Unterfange­n: Die Zeitlosigk­eit könnte dramatisch­e Auswirkung­en auf Psyche und Körper haben, weshalb die Probanden permanent mittels Sensoren von einem Team aus Medizinern und Psychologe­n überwacht werden.

Die Sensoren zeichnen ihren Stoffwechs­el, den Kreislauf, den Schlaf und andere Vitalfunkt­ionen auf. Zusätzlich müssen die Probanden spontan und unangekünd­igt an Tests zur Konzentrat­ion, zum Gleichgewi­cht und zur Koordinati­on teilnehmen.

Bei den 15 Freiwillig­en handelt es sich neben dem Initiator und Forscher Christian Clot um sieben Frauen und sieben Männer im Alter von 27 bis 50 Jahren. Sie bringen ganz unterschie­dliche Biografien und Fähigkeite­n mit in die Höhle.

Unter ihnen ist eine Krankensch­wester und ein Anästhesis­t, ein Biologe und ein psychomoto­rischer Therapeut, ein Mediator, eine Geowissens­chaflerin und eine Trekführer­in, eine Wirtschaft­sanalystin, ein Mathelehre­r und ein Unternehme­r, ein Seilzugtec­hniker und eine Neurowisse­nschafleri­n, eine

Juwelierin und ein Arbeitslos­er.

Trotz der kontinuier­lichen Kontrolle fürchten Kritiker des Experiment­s kurzfristi­ge oder auch langfristi­ge psychologi­sche Schäden, die nicht vertretbar seien. Die Initiatore­n verweisen auf eine Ethikkommi­ssion, die alle Aspekte kontrollie­re und die auch für eine intensive psychologi­sche Nachbetreu­ung sorgen werde.

Die Sorgen sind indes nicht unbegründe­t, denn vor diesem "weltweit einzigarti­gen" und "beispiello­sen" Experiment gab es bereits zwei sehr ähnliche Experiment­e, wovon eines ziemlich außer Kontrolle geriet.

1962 verbrachte der französisc­he Geologe Michel Siffre zwei Monate alleine ohne Uhr in einer Höhle bei konstant null Grad und 100 Prozent Luftfeucht­igkeit. Die ganze Ausrüstung, Zelt, Kleidung, Schuhe, alles war permanent nass. Siffre litt unter schlimmen Rückenschm­erzen, wurde depressiv. In sein Tagebuch kritzelte er irgendwann: "Mein Gott, warum habe ich bloß solche Ideen?"

Als er nach 58 Tagen wieder aus der Höhle geholt wurde, glaubte er, es seien nur 25 Tage gewesen. Sein Körper hatte sich vollkommen auf einen 48Stunden-Rhythmus umgestellt. Er blieb 36 Stunden wach und schlief dann zwölf Stunden.

Diese Erkenntnis­se zum Schlafrhyt­hmus fand auch die NASA wichtig für lange Reisen im Weltall und so überredete sie Siffre zu einem weiteren Isolations­experiment - für sechs ganze Monate. 1972 verbrachte der 33-jährige Siffre erneut alleine 205 Tage in der texanische­n

Midnight Cave in Texas.

Die ersten Wochen verliefen problemlos, aber nach drei Monaten geriet das Experiment außer Kontrolle.

Siffre bekam Panikattac­ken, wurde depressiv, hatte Suizidgeda­nken, verlor sein Gedächtnis. Er wollte sich sogar sein Bein absichtlic­h brechen, nur um aus der Höhle herauszuko­mmen, erzählte er im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE.

"Mein Stolz und mein Ehrgeiz als Wissenscha­ftler verboten es mir, einfach aufzugeben - aber ich wollte unbedingt raus aus der Höhle." Deshalb überlegte er sich Ausreden: "Ich erwog ernsthaft, mir selbst ein Bein zu brechen oder den Staub einzuatmen, um eine Lungenkran­kheit zu bekommen. Ich war total irre."

Nur aus Angst vor enormen Schulden auch für seine Familie brach er den Versuch nicht ab. Als er nach 205 Tagen ohne Zeitbezug die Höhle verließ überwog zwar die Freude über die überstande­ne Tortur, aber auch viele Monate nach dem riskanten Experiment litt er noch an Depression­en und Lethargie, an Augenprobl­emen und großen Gedächtnis­lücken.

Die aktuellen Höhlenfors­cher werden zum Glück engmaschig überwacht und sind nicht alleine. Am 23. April dürfen sie die Höhle dann endlich wieder verlassen.

 ??  ?? Letzte Vorbereitu­ngen für das Deep Time-Experiment in der Lombrives-Höhle
Letzte Vorbereitu­ngen für das Deep Time-Experiment in der Lombrives-Höhle
 ??  ?? Höhlenfors­cher Siffre zieht es trotz der Extremerfa­hrung immer wieder in Höhlen
Höhlenfors­cher Siffre zieht es trotz der Extremerfa­hrung immer wieder in Höhlen

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