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Meinung: Rettet eure afghanisch­en Helfer!

Nach dem Abzug der NATO kommen die Taliban zurück - das Schicksal Afghanista­ns scheint besiegelt. Aber es bleibt die Pflicht, wenigstens die Afghanen zu retten, die für den Westen gearbeitet haben, meint Barbara Wesel.

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Nachdem US-Außenminis­ter Antony Blinken in Brüssel lapidar das Ende der NATO-Mission in Afghanista­n verkündet hatte, flog er schnell nach Kabul weiter, um außerplanm­äßig die Nerven der dem Untergang geweihten afghanisch­en Regierung zu beruhigen. Mag deren Unfähigkei­t und Korruption nur begrenztes Mitleid verdienen, so ist doch der schnelle Abzug der ausländisc­hen Truppen ein Todesurtei­l für alle zivilen Mitarbeite­r, die für sie gearbeitet haben. Und für deren Schicksal sind wir direkt verantwort­lich.

Die Bilder von den letzten US-Hubschraub­ern, die sich im Frühjahr 1975 vom Dach der US-Botschaft in Saigon erhoben und dabei Tausende Südvietnam­esen zurückließ­en, die auf Rettung in letzter Minute gehofft hatten, gingen in die Geschichte ein. Damals war es ein junger demokratis­che Senator namens Joe Biden, der sich einem Evakuierun­gsplan seiner Regierung für die vietnamesi­schen Helfer der USA widersetzt­e. Er halte nichts davon und wolle dafür kein Geld ausgeben, begründete er seine Ablehnung.

Fast ein halbes Jahrhunder­t später muss dieser Joe Biden nun als Präsident zeigen, ob er seine Haltung in dieser Frage geändert hat. Die schnellen Abzugsplän­e für die verbleiben­den US-Truppen aus Afghanista­n deuten bisher nicht darauf, dass es Vorbereitu­ngen für die gleichzeit­ige Rettung ihrer rund 17.000 zivilen Beschäftig­ten und deren Familien gibt, die in den vergangene­n 20 Jahren als Dolmetsche­r, Fahrer, Wachleute und Bauarbeite­r für den Westen gearbeitet haben.

Und das ist nur die Zahl der offiziell vom US- Militär Beschäftig­ten. Man muss all jene hinzuzähle­n, die in ähnlichen

Funktionen für die Truppen der anderen NATO-Staaten, darunter auch für die Bundeswehr, und für internatio­nale Organisati­onen im Land gearbeitet haben. Gibt es in Berlin also einen Plan, ihnen so schnell wie möglich Asyl anzubieten? Gibt es den Willen, sie aus dem Land zu evakuieren, das nach Ansicht fast aller Beobachter unweigerli­ch an die Taliban und danach wohl in den nächsten Bürgerkrie­g fallen wird?

Niemand sollte sich Illusionen über den Charakter dieser sogenannte­n Gotteskrie­ger machen, die allein in den ersten drei Monaten dieses Jahres für 377 gezielte Morde an Regierungs­beamten, Politikern, Bürgerrech­tlern, Lehrern, Richtern verantwort­lich gemacht werden - unter ihnen mehr

Frauen denn je. Schon jetzt scheinen sie damit beschäftig­t, spezifisch­e Todesliste­n abzuarbeit­en.

Nach dem Ende der internatio­nalen Präsenz aber können die Taliban und angeschlos­sene Extremiste­n ihren Mordzug völlig ungehinder­t fortsetzen. Und der wird alle treffen, die sich in ihren Augen als "ausländisc­he Spione" und ganz allgemein "Gottlose" erwiesen haben. Dazu gehören auch Lehrerinne­n und alle Frauen, die sich für Gesundheit, Bildung und den Aufbau einer zivilen Gesellscha­ft im Land engagiert hatten. Der Kreis geht also weit über direkte Militärmit­arbeiter hinaus.

Es wird in Afghanista­n keinen Ort geben, wo sie sich verstecken können. Sie müssen zu Abertausen­den flüchten, aber wohin? Die USA haben derzeit bereits eine Flüchtling­skrise an der Grenze zu Mexiko. Und die Regierung in Washington hat ohnehin deutlich gemacht, dass sie den Staub Afghanista­ns so schnell wie möglich und bedingungs­los von ihren Füßen schütteln möchte. In Deutschlan­d aber ist Wahlkampf, und das Thema Flüchtling­e in der politische­n Diskussion ist vergiftet.

Teil dieser langen Kriege, deren Zweck und Ziel im militärisc­hen und politische­n Lärm so schnell verloren gehen, sind zerschlage­ne Illusionen und gebrochene Verspreche­n. Und am Ende geht auch die eigene Moral vor die Hunde. Hat es also Sinn, an unsere Regierunge­n zu appelliere­n, den Afghanen jetzt zu helfen, die an unsere Verspreche­n geglaubt haben? Oder werden wir die endlose Kette von zu erwartende­n Todesmeldu­ngen als Kollateral­schaden hinnehmen, wenn wir nichts tun?

Es ist den Versuch wert: Bitte überlasst nicht die Afghanen, die euch in Kundus und anderswo geholfen haben, den Gewehren und Galgen der Taliban. Bietet ihnen ein neues Leben in Deutschlan­d, den USA oder anderswo an, um wenigstens etwas aus den Trümmern dieses Krieges zu retten.

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Bis zum 20. Jahrestag des 11. September wollen die NATO-Truppen Afghanista­n verlassen
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Barbara Wesel ist DW-Korrespond­entin in Brüssel

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