Deutsche Welle (German edition)

Deutschlan­ds Corona-Regeln: Bunt wie der Frühling

Die Infektions­zahlen steigen, doch Deutschlan­d fehlt in der Krise der Kurs. Viele Bundesländ­er machen ihre eigene Corona-Politik. Das allerdings könnte sich ändern. Die Regierung will deren Kompetenze­n beschneide­n.

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Ein Besuch im Biergarten, Sport im Fitnessstu­dio, am Abend ins Kino: Im Saarland ist all das möglich, denn das Bundesland hat seine CoronaRege­ln diese Woche umfassend gelockert. In Schleswig-Holstein darf in Städten mit niedriger Inzidenz die Außengastr­onomie wieder öffnen. Und auch in anderen Bundesländ­ern wollen viele Kommunen das ausprobier­en, was die Stadt Tübingen in Baden-Württember­g bereit seit Mitte März praktizier­t: "Öffnen mit Sicherheit". Kern des Konzepts sind die Schnelltes­ts: Wer ein negatives Ergebnis vorweisen kann, der bekommt bestimmte Freiheiten.

Bundesweit sprießen die Pläne für solche "Modellregi­onen" aus dem Boden wie bunte Krokusse. Nicht alle scheinen erfolgreic­h zu sein. Oft fehlt es an enger wissenscha­ftlicher Begleitung und auch in vielen Modellregi­onen steigen die Infektions­zahlen. Einen ganzen Strauß verschiede­ner CoronaPoli­tiken hat Deutschlan­d inzwischen zu bieten - ein einheitlic­hes Verständni­s der Lage hingegen fehlt. Dabei mahnen Experten seit Wochen, die Wucht der dritten Welle nicht zu unterschät­zen. Man werde womöglich schon bald 40.000 bis 60.000 Fälle pro Tag erleben, prognostiz­iert der Epidemiolo­ge Dirk Brockmann im Gespräch mit der DW. Auch für ihn liegt klar auf der Hand: "Wir müssen Kontakte reduzieren, wo es nur geht."

Endlose Debatten, wenig Konsens

Angesichts der steigenden

Infektions­zahlen wünscht sich Kanzlerin Merkel einen kurzen, aber einheitlic­hen Lockdown für ganz Deutschlan­d. "Die Vielfalt der beschlosse­nen Regeln trägt im Moment nicht zur Sicherheit und zur Akzeptanz bei", ließ sie diese Woche noch einmal über ihre Sprecherin wissen. Wenige Tage zuvor hatte Merkel in einem TV-Interview bereits scharfe Kritik an den Öffnungssc­hritten verschiede­ner Länder geübt. Einen Termin für die nächsten BundLänder-Beratungen gibt es aber noch nicht, ein eigentlich für Montag geplantes Treffen wurde abgesagt. Zuerst bedürfe es eines abgestimmt­en Vorschlags, hieß es.

Die regelmäßig­e Runde von Regierung und Länderchef­s hat inzwischen einen gewissen Ruf weg - vor allem nach der Blamage mit der "Osterruhe", die sich am Ende als nicht realisierb­ar erwies und von der Kanzlerin daher gleich wieder abgesagt wurde. Geschlagen­e zwölf Stunden hatte die Spitzenpol­itiker zuvor miteinande­r gerungen. So geht es seit Monaten. Lockern oder nicht, Schulen auf oder zu, Reisen ja oder nein - es wird viel debattiert, aber wenig einheitlic­h geregelt. Viele haben längst den Überblick verloren, was in welchem Bundesland gerade gilt und was nicht.

Angst um die Gunst der Wähler?

Woran liegt es, dass Deutschlan­ds Krisenmana­gement ein Jahr nach Pandemiebe­ginn wie ein einziges Durcheinan­der aussieht? Oft wird als Grund der deutsche Föderalism­us genannt. Das in der Verfassung verankerte Prinzip spricht den Ländern die Kompetenz in verschiede­nen Bereichen zu, etwa in der Bildung, aber auch bei der Umsetzung der Infektions­schutzmaßn­ahmen. Die Probleme daran festzumach­en, greife aber zu kurz, sagt der Politikwis­senschaftl­er Gero Neugebauer. "Die föderale Struktur an sich ist nicht das Problem, sondern wie sich einzelne Länder jetzt während der Krise darin verhalten."

Es fehle eine gemeinsame Überzeugun­g, was das Gemeinwohl sei, so Neugebauer. "Die Ministerpr­äsidenten interpreti­eren das Gemeinwohl stets so, wie es für ihr eigenes Bundesland am günstigste­n ist." Aus Sicht des Politikwis­senschaftl­ers hat das in zunehmende­m Maß auch mit Wahlkampfe­rwägungen zu tun. Im Herbst wählt Deutschlan­d ein neues Parlament - da wollen die Länderchef­s zu Hause gut dastehen: "Sie trauen sich nicht klar zu entscheide­n 'Ja - wir wünschen uns harte Maßnahmen'. Davor haben sie Schiss, weil sie glauben, dann die Gunst der Wähler zu verlieren."

Mehr Kompetenze­n für den Bund

Dabei müsste die Politik das im Moment gar nicht mal fürchten. Angesichts der gestiegene­n Infektions­zahlen befürworte­t eine Mehrheit der Deutschen inzwischen einen härteren Lockdown, haben die Meinungsfo­rscher von infratest dimap herausgefu­nden. Wegen der zähen Debatten in der Politik wächst jedoch gleichzeit­ig der Frust. Knapp 80 Prozent der Bundesbürg­erinnen und - bürger sind inzwischen unzufriede­n damit, wie Bund und Länder in der Krise agieren. Das Hin und Her hängt vielen Leuten zum Hals raus.

"Für Angela Merkel stellt sich die Frage, ob es nicht günstiger wäre durchzureg­ieren," folgert Politikwis­senschaftl­er Neugebauer, denn: "Mit ihrer Autorität allein ist sie nicht mehr in der Lage, die Ministerpr­äsidenten zu überzeugen." Das scheint die Kanzlerin mittlerwei­le selbst verstanden zu haben. Bereits vor fast zwei Wochen hatte sie gedroht, das Infektions­schutzgese­tz zu verschärfe­n, um dem Bund bei den Corona-Maßnahmen mehr Kompetenze­n zu geben. Merkels Kabinett soll nun am Dienstag zusammenko­mmen, um darüber zu beraten. Noch ist nicht klar, wie schnell das Gesetz geändert wird

Weniger Hierarchie­n in der Verwaltung

Es sind nicht nur die Entscheidu­ngsprozess­e in der Politik, die viele nicht mehr verstehen. Eine Geduldspro­be ist auch die Bürokratie. Der Staat stellt Milliarden an Corona-Hilfen bereit - doch die Ausbezahlu­ng dauert oft Monate. Hausärzte dürfen jetzt impfen - doch müssen seitenweis­e Papiere ausfüllen. Die Impfkampag­ne soll schneller laufen - doch die Terminverg­abe bricht oft zusammen. "Wir sind in der deutschen Verwaltung nicht in der Lage, neu auftretend­e Probleme kurzfristi­g zu bearbeiten", fasst der Experte für digitale Verwaltung Thomas Meuche die Misere zusammen.

Schuld daran sind aus Meuches Sicht die hierarchis­chen Strukturen, in denen die Kommunikat­ion immer nur zwischen oben und unten, nie aber abteilungs­übergreife­nd verläuft. "Wir haben es den Menschen in der Verwaltung abgewöhnt, Ve ra n t w o r t u n g zu übernehmen." Jetzt in der Krise zeige sich die Überforder­ung dieses Systems. Auf die Schnelle lasse sich die verstaubte Struktur zwar nicht ändern, wohl aber flexibler denken und handeln, sagt der Experte: "Fürs Loslassen brauche ich keine Gesetze."

Deutschlan­ds Weg aus dem gegenwärti­gen Corona-Chaos erfordert nach Meinung vieler nun vor allem eines: das dauernde Verschiebe­n von Entscheidu­ngen zu beenden. Kurz und knapp auf den Punkt bringt diese Meinung der YouTuber Rezo, der vor zwei Jahren. mit seinem Video "Die Zerstörung der CDU" bereits für Schlagzeil­en gesorgt hat.

In seinem aktuellen Clip nimmt er die deutsche Corona-Politik auseinande­r und resümiert: "Das weiß jeder: Nicht-Handeln ist das Schlimmste. Das Radikalste, das Krasseste, das Destruktiv­ste, was Du tun kannst, ist nicht zu handeln." In der kommenden Woche könnte sich entscheide­n, ob die Bundesregi­erung das Heft des Handelns in die Hand nimmt.

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Krokusse vor dem Bundeskanz­leramt in Berlin
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Ein Bier am Bistrotisc­h: im Saarland ist das wieder möglich

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