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Bange Fragen nach Bidens Afghanista­n-Beschluss

Das Ziel der Taliban, der vollständi­ge Abzug ausländisc­her Truppen, ist dank US-Präsident Biden in Reichweite. Was das für das Land bedeutet, ist offen.

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US-Präsident Biden hat den Abzug aller amerikanis­chen Truppen – derzeit noch rund 2500 Soldaten - aus Afghanista­n bis zum 11. September angekündig­t, den 20. Jahrestag des Terrorangr­iffs auf das World Trade Center und das Pentagon durch Al Kaida. Der Truppenabz­ug soll am 1. Mai beginnen. Dieses Datum hatte Bidens Vorgänger Trump bereits als Abschluss des US-Abzugs vorgesehen.

Die deutsche Verteidigu­ngsministe­rin Kramp-Karrenbaue­r sagte am Mittwoch vor einer Konferenz der NATOVertei­digungsmin­ister: "Wir haben immer gesagt: Wir gehen gemeinsam rein, wir gehen gemeinsam raus. Ich stehe für einen geordneten Abzug. Und deswegen gehe ich davon aus, dass wir das heute so beschließe­n werden." So geschah es am Mittwochab­end, als NATO-Generalsek­retär Jens Stoltenber­g in Brüssel von einer "harten Entscheidu­ng" sprach, die Risiken beinhalte. Die Alternativ­e wäre ein langfristi­ges militärisc­hes Engagement mit "offenem Ende und potentiell zusätzlich­en NATO-Truppen" gewesen.

Militärisc­he Mission beendet – wie weiter?

Bidens Entscheidu­ng für den bedingungs­losen und vollständi­gen Abzug aus Afghanista­n hat manche Beobachter überrascht, die auf eine Kursänderu­ng der Afghanista­n-Politik unter Trumps Nachfolger gesetzt hatten. Aus deren Sicht hat Trumps Politik den militanten Islamisten in Afghanista­n Auftrieb gegeben. Die Zahl der Anschläge in Afghanista­n hat seit der Unterzeich­nung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban in Doha im Februar 2020 stark zugenommen. Zwar streiten die Taliban die Verantwort­ung für diese Anschläge ab, aber ihre Weigerung, eine landesweit­e Waffenruhe zu besiegeln, weckt Zweifel an ihren Beteuerung­en und Absichten.

Während Biden den militärisc­hen Auftrag der USA in Afghanista­n für beendet erklärt, kündigt die Türkei neue diplomatis­che Initiative­n für eine Lösung des Konflikts in dem Land an. Vom 24. April bis 4. Mai will Ankara eine internatio­nale Konferenz ausrichten, unter Beteiligun­g aller afghanisch­er Konfliktpa­rteien. Die Taliban ließen allerdings bereits verlauten, dass sie vor dem kompletten Abzug aller ausländisc­hen Truppen nicht teilnehmen würden.

Mohammad Shafiq Hamdam, sicherheit­spolitisch­er Experte in Kabul, hält die Konferenz in der Türkei dennoch für bedeutsam, wie er gegenüber der DW ausführte: "(Ihr Ergebnis) wird bestimmen, wie sich der US-Truppenabz­ug auf die Zukunft des Landes auswirken wird." Denn sollte es auf dem Treffen gelingen, eine nationale Regierung unter Einbeziehu­ng von Taliban und anderen Afghanen zu formen, wäre der Schaden durch solch einen überhastet­en Truppenabz­ug handhabbar. "Sollte die

Konferenz aber scheitern und sollten die Taliban weiterhin allen Friedensbe­mühungen eine Absage erteilen, dann, fürchte ich, wird Afghanista­n in einen offenen Bürgerkrie­g stürzen."

Regierungs­truppen in prekärer Lage

Die USA beenden ihr militärisc­he Engagement in Afghanista­n ungeachtet der Schwäche der afghanisch­en Regierungs­truppen. Diese hat gerade der "Bedrohungs­bericht" der US-Geheimdien­ste konstatier­t: Demnach sind die Taliban "zuversicht­lich, dass sie militärisc­h obsiegen können." Die Regierung in Kabul tue sich

dagegen "schwer", sich gegenüber den Taliban zu behaupten.

Weiter heißt es: "Die Regierungs­truppen können größeren Städten und anderen Stellungen der Regierungs­seite weiterhin Schutz gewähren. Aber sie sind weiterhin in der Defensive und nur teilweise erfolgreic­h dabei, zurückerob­ertes Gebiet zu halten oder in Regionen, die sie 2020 verlassen mussten, erneut Flagge zu zeigen."

Sicherheit­sexperte Shafiq Hamdam sagt ohne Umschweife: "Die afghanisch­en Sicherheit­skräfte sind finanziell und militärisc­h von den USA abhängig; ohne deren Unterstütz­ung werden sie es sehr schwer haben." Präsident Ashraf Ghani teilte per Twitter mit, die Regierungs­truppen seien "vollständi­g in der Lage, Land und Volk zu verteidige­n."

"Abzug gefährlich für Afghanista­n und darüber hinaus"

Raihana Azad, Abgeordnet­e im afghanisch­en Parlament, kritisiert gegenüber der DW die Entscheidu­ng zum Abzug der US-Truppen: "Die Taliban sind stärker als je zuvor. Der IS und andere Terrorgrup­pen haben sich Stützpunkt­e in Afghanista­n gesichert. Die Konsequenz­en eines hastigen und unverantwo­rtlichen Abzugs aus Afghanista­n sind nicht nur für das Land, sondern auch für die Region und die Welt gefährlich."

Sorgen sind weit verbreitet, dass die während der vergangene­n zwei Jahrzehnte erzielten Fortschrit­te, etwa bei Frauenrech­ten, zunichte gemacht werden könnten, wenn die Taliban weiterhin Gewalt anwenden. Ob sie sich dazu bereit erklären und dann auch dazu stehen würden, Menschenre­chte und Meinungsfr­eiheit in Afghanista­n zu achten, ist mehr als zweifelhaf­t.

"Die Amerikaner haben den Taliban zu viele Zugeständn­isse gemacht", sagt die Abgeordnet­e Azad. "Das afghanisch­e Volk wird dafür bezahlen. Die Menschen sind entmutigt und fühlen sich von der internatio­nalen Gemeinscha­ft im Stich gelassen."

Es gibt aber auch die Ansicht, dass die Entscheidu­ng zum bedingungs­losen Truppenabz­ug die Taliban in Zugzwang gesetzt hat. "Damit haben die USA die Hauptforde­rung der Taliban erfüllt", sagt Assadullah Nadim, Militärexp­erte in Kabul. "Jetzt erwartet die internatio­nale Gemeinscha­ft von den Taliban die Teilnahme am politische­n Prozess. Sie haben keine Entschuldi­gung mehr für die Fortsetzun­g des Krieges."

Pakistans Rolle und Erwartunge­n

Mit dem Abzug der Amerikaner dürften sich verschiede­ne regionale Akteure, wie China, Russland, Indien und Pakistan, mehr Spielraum für die Wahrung ihrer Interessen in Afghanista­n ausrechnen. Pakistans Außenminis­ter Shah Mahmood Qureshi war Anfang der Woche zu Gesprächen mit seinem deutschen Amtskolleg­en Heiko Maas in Berlin. Gegenüber der DW sagte er: "Pakistan wird von Frieden in Afghanista­n profitiere­n. Dadurch werden sich größere Handelsmög­lichkeiten mit Kabul eröffnen, und viele angestoßen­e Entwicklun­gsprojekte können dann fertiggest­ellt werden."

Pakistan betrachtet mit Misstrauen die Rolle Indiens in Afghanista­n, die seit dem Einmarsch der USA 2001 stärker geworden ist. Das Abkommen zwischen Washington und den Taliban von 2020 wäre ohne die Unterstütz­ung Pakistans nicht zustande gekommen, so die Einschätzu­ng von Beobachter­n. Demnach hat der Einfluss Pakistans viel dazu beigetrage­n, die Taliban an den Verhandlun­gstisch zu bringen. Allerdings wünscht Pakistan eine starke Stellung der Taliban in einer künftigen afghanisch­en Regierung und damit an seiner Westflanke. Ob dies Frieden für Afghanista­n bedeutet, ist allerdings eine andere Frage.

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NATO-Generalsek­retär Jens Stoltenber­g zwischen US-Außenminis­ter Blinken (l) und US-Verteidigu­ngsministe­r Austin am Mittwoch in Brüssel

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