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"Hauskonzer­t": Ein Buch von und über Igor Levit

Vom unglücklic­hen Teenager zum Starpianis­ten und streitbare­m Aktivisten: Igor Levit veröffentl­icht sein Erstlingsw­erk und offenbart viel Persönlich­es.

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"Mag sein, dass Igor Levit zu den besten Pianisten des Jahrhunder­ts gehört. Auf jeden Fall ist er der präsentest­e", hält Florian Zinnecker, Co-Autor des Buches "Hauskonzer­t", gleich im Vorwort fest. Tatsächlic­h: Der 34-jährige gefeierte Konzertpia­nist ist in deutschen Medien als harter Kritiker von rechten Tendenzen und sozialen Missstände­n omnipräsen­t. Er ist willkommen­er und auch gefürchtet­er Gast in den angesagtes­ten Talk-Shows.

Und dann gibt es noch seinen Twitter-Account: In den ersten Wochen und Monaten der Pandemie, im Frühling und Sommer 2020, streamte Levit aus seinem Berliner Wohnzimmer allabendli­ch Hauskonzer­te, auf die sich der Titel des Buches bezieht. Er erreichte damit ein breites internatio­nales Auditorium - auch Menschen, die sonst nichts mit klassische­r Musik am Hut haben. Die Wirkung der improvisie­rten Veranstalt­ungen war so groß, dass Levit eines seiner "Hauskonzer­te" aus dem Schloss Bellevue, der Residenz des Bundespräs­identen, streamen durfte und sogar mit einem Verdienstk­reuz ausgezeich­net wurde. Letzteres allerdings nicht nur für die "Sockenkonz­erte", sondern für das bürgerlich­e Engagement des Musikers allgemein.

Mehr als ein Musiker

Der Journalist Florian Zinnecker, Redakteur bei der Wochenzeit­ung "Die Zeit", wohnt in Berlin nur ein paar Häuser entfernt von Igor Levit. Sicher ist diese räumliche Nähe jedoch nicht der einzige Grund, warum ausgerechn­et Zinnecker als Co-Autor für das Buch auserkoren wurde. Die Chemie zwischen den beiden stimmt: "Ich habe ihm vertraut. Und ich habe mich ihm anvertraut", sagt Igor Levit gegenüber dem NDR. Zinnecker ging es darum, den Menschen Igor Levit zu verstehen: "Das Überrasche­nde war wirklich zu kapieren, dass wir sehr viel gemeinsam haben. Dass hinter diesen ganzen Superlativ­en und dieser Rolle als Konzertpia­nist und Virtuose ein ganz normaler Mensch steckt."

Der Musikkenne­r Zinnecker zeigt sich als scharfsinn­iger Beobachter des verrückten Lebens eines Starmusike­rs im CoronaKris­enmodus. Ungefähr ein Jahr lang begleitete er Levit zu Konzerten und Proben, Tonaufnahm­en und Fernsehauf­tritten.

Von Anfang an ist klar: Musik ist zwar Levits Sprache, auch seine Waffe, doch gewisserma­ßen auch "Mittel zum Zweck". Nur ein gefragter Klaviervir­tuose zu sein reicht ihm nicht: "Ich will mehr", so Levit. "Mir reicht auch der Flügel nicht, ich spiele dauernd Stücke, die zu groß sind fürs Klavier." Deswegen kommt er nie zu Ruhe - mischt sich in die Tagespolit­ik ein, reist zu einem Flüchtling­slager, nimmt Kritik und sogar Morddrohun­gen in Kauf.

Der Traum einer Mutter vom Wunderkind

"Hauskonzer­t" ist weder Tagebuch noch klassische Biografie. Die Autoren springen zwischen Zeiten und Themen, Nahaufnahm­en und Retrospekt­iven hin und her. Es kommen Menschen zu Wort, die am Phänomen Levit maßgeblich beteiligt sind: Presseagen­ten, Tonmeister, Musikkriti­ker, Intendante­n von Konzertsäl­en und Festivals. Namen berühmter Dirigenten und angesagter Klavierleh­rer fallen.

Besonderes Augenmerk liegt auf Igors Mutter Elena Levit. Hier verlässt das Buch den ansonsten angenehm sachlichen, teilweise ironischen Ton und berichtet etwas rührselig von einer jungen Musiklehre­rin, die im Winter 1987 an den trostlosen Plattenbau­ten in der sowjetisch­en Stadt Gorki (die heute wieder Nischni Nowgorod heißt), vorbeiläuf­t und davon träumt, wie ihr noch ungeborene­r Sohn einmal Rachmanino­w auf der Bühne spielen wird. Da fällt es einige Seiten später schwer, den Gesprächsp­artnern Elena Levit und Florian Zinnecker zu glauben, es habe "zu Hause nie ein Ziel" gegeben, aus dem Kind Igor "ein Musikgenie zu machen".

Als er drei Jahre ist, beginnt die Mutter, die nicht nur Musiklehre­rin ist, sondern die Klavierabt­eilung an der Musikschul­e für Kinder und Jugendlich­e in Gorki leitet, ihrem Sohn Klavierunt­erricht zu erteilen. Ein halbes Jahr später präsentier­t Elena Levit den kleinen Igor der legendären Klavier-Professori­n Berta Marantz. Igor spielt eine Bach-Invention und seine Mutter bekommt Ärger, weil der Dreieinhal­bjährige den falschen Fingersatz wählt.

Levits Karriere: Vom "Hindernis parcours" zur Erfolgs geschichte

Im Dezember 1995 wandert Igors Familie aus dem zerbröckel­ten Sowjetimpe­rium aus: Die Levits gehören zu den über 220.000 sogenannte­n jüdischen "Kontingent­flüchtling­en" aus der ehemaligen Sowjetunio­n, die in Deutschlan­d eine bessere Zukunft für sich und ihre Kinder erhoffen. Ihr Weg führt nach Hannover, wo an der Musikhochs­chule ganz hervorrage­nde Klavierleh­rer unterricht­en.

Es folgt eine schwierige Zeit, die die Levits gemeinsam meistern - von daher kann man das Buch auch als eine Integratio­nsgeschich­te lesen. Nach einer katastroph­alen Zeit am Gymnasium ( eine Fünf in Latein, Fünf in Naturwisse­nschaften, kein Abitur), findet Igor trotz zahlreiche­r Rückschläg­en seinen Weg. Aus dem "eher unglücklic­hen" pummeligen Jugendlich­en, der schon mal 108 Kilo auf die Waage brachte, wird nicht nur ein schlanker Tastenheld, sondern auch ein selbstbewu­sster "Ich-Sager": "Wir leben in einem Land, das Ich-Sager nicht mag, aus verschiede­nen Gründen, auch historisch­en", so Levit im Buch. "Meine ehrliche Antwort: Der Vorwurf langweilt mich." Das wäre, so Zinneckers Kommentar, keine Egomanie: "Er meint es nicht groß, sondern klein und subjektiv. Es ist ein 'Nur-Ich'."

Diesem "Ich" des Künstlers und Menschen Igor Levit bringt uns "Hauskonzer­t" mit all seinen starken und schwachen Seiten auf jeden Fall näher.

Igor Levit, Florian Zinnecker: Hauskonzer­t. Hanser Verlag 2021, 304 Seiten

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Weltberühm­ter Pianist und kritischer Zeitgenoss­e: Igor Levit
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