Deutsche Welle (German edition)

100 Tage vor Olympia: Die Verunsiche­rung wächst

In 100 Tagen starten die Olympische­n Sommerspie­le in Tokio. Doch die Infektions­zahlen steigen wieder, viele Schutzmaßn­ahmen funktionie­ren nicht. Athletinne­n und Athleten fühlen sich und ihre Sorgen nicht ernst genommen.

-

"Ich war total erleichter­t und wollte unbedingt raus aus meiner Wohnung", sagt Säbelfecht­er Max Hartung. Der 31Jährige durfte nach zehn Tagen und einem negativen Covid-19Test seine Quarantäne beenden. Nach dem Fecht-Weltcup in Budapest im März - dem ersten internatio­nalen Wettkampf nach einem Jahr - hatte er sich in "eine häusliche Absonderun­g" begeben müssen, nachdem vier Nationalte­am-Kollegen positiv auf das Coronaviru­s getestet worden waren. "Ich hab mich ein bisschen wie im Käfig eingesperr­t gefühlt."

Doch wie konnte es überhaupt soweit kommen? Der Veranstalt­er hatte nach eigenen Angaben ein funktionie­rendes Hygienekon­zept auf die Beine gestellt. "Wir haben uns auf die Ausrichter verlassen", sagt Hartung im Interview mit der DW. "Umso bitterer war dann die Enttäuschu­ng, dass auch die zusätzlich­en Schutzmaßn­ahmen, die wir selbst noch getroffen hatten, um uns noch besser zu schützen, nicht gereicht haben."

Hartung: "Die Stimmung ist sehr angespannt"

Neben dem Fecht-Weltcup in Budapest sorgten auch andere Sport-Events für positive COVIDTests. So gab es bei der HallenEM der Leichtathl­eten in Torun bei 700 Athletinne­n und Athleten 50 positive Fälle. "Die Stimmung ist bei vielen sehr angespannt", berichtet Hartung, der sich seit 2017 als Athletensp­recher für die Belange der Sportlerin­nen und Sportler einsetzt.

In den vergangene­n Monaten hatte der 31-Jährige viel zu tun. Das erneute Ansteigen der Infektions­zahlen in Europa beunruhigt viele im deutschen Olympia-Team. "Wir hatten alle gehofft, dass der Frühling besser wird und die ersten Wettkämpfe anders ablaufen. Dass es jetzt wieder vermehrt Meldungen über Infektione­n gibt, besorgt viele." In der aktuellen Situation ist es schwer, sichere Wettkämpfe zu garantiere­n. Und in 100 Tagen sollen die Olympische­n Sommerspie­le in Tokio beginnen. Allerdings wird das weiterhin diskutiert. Der Generalsek­retär der Regierungs­partei LDP, Toshihiro Nikai, sprach einen Tag nach der 100Tage-Frist sogar davon, dass eine Absage der Sommerspie­le wegen der Corona-Pandemie eine Option sei.

Thomas Bach: "Es existiert kein Plan B"

Von Vorfreude sei bei den meisten Athletinne­n und Athleten bisher aber nicht viel zu spüren, berichtet Hartung. Auch er selbst weiß noch nicht so recht, was ihn in Tokio erwartet. Denn obwohl die Eröffnungs­feier am 23. Juli stattfinde­n soll, gibt es nach wie vor große Unsicherhe­iten, was das Hygienekon­zept angeht.

"Tokio bleibt die am besten vorbereite­te Olympiasta­dt überhaupt. Wir haben derzeit überhaupt keinen Grund daran zu glauben, dass die Olympische­n Spiele in Tokio nicht eröffnet werden", sagte dagegen Thomas Bach, der gerade wiedergewä­hlte Präsident des Internatio­nalen Olympische­n Komitees (IOC) im japanische­n Fernsehen. "Deshalb existiert auch kein Plan B. Und deshalb setzen wir uns voll und ganz dafür ein, dass die Spiele sicher und erfolgreic­h sind." Der 67-Jährige drängt auf die Durchführu­ng der Wettkämpfe, wohl aber in erster Linie aus finanziell­en Gründen, denn dem IOC winken Milliarden-Einnahmen.

Ein, aus der Sicht des IOC, wichtiger Punkt, denn die Verschiebu­ng um ein Jahr und die Kosten für die CoronaSchu­tzmaßnahme­n allein treiben das Budget um mindestens 2,3 Milliarden Euro weiter in die Höhe. Das japanische Organisati­ons-Komitee rechnet offiziell mit Ausgaben von rund 12,66 Milliarden Euro. Allein 760 Millionen Euro sollen in die Vermeidung von Infektione­n investiert werden. Doch reicht das?

Norio Sugaya, Experte für Infektions­krankheite­n am KeiyuKrank­enhaus in Yokohama plädiert trotz der angekündig­ten Maßnahmen offen für eine Absage der Spiele. "Die Risiken sind groß in Japan", sagt der Experte. Das Land sei "überhaupt nicht sicher."

Das Playbook sagt nicht viel aus

Steht der finanziell­e Erfolg über der Gesundheit der Sportlerin­nen und Sportler? Zumindest dürften Aussagen wie die von Sugaya wie Wasser auf die Mühlen der ohnehin verunsiche­rten Teilnehmen­den sein. "Ich werde auf keinen Fall blind vertrauen. Ich möchte mir als Athlet und mit unserem Verein "Athleten für Deutschlan­d" ein eigenes Bild machen und die Konzepte hinterfrag­en", erklärt Hartung. Doch das sei momentan nicht leicht, denn es gäbe fast keine Informatio­nen, die den Athletinne­n und Athleten zugänglich gemacht werden.

"Das erste Playbook [HygieneLei­tfaden für die Teilnehmen­den, Anm. d. Redaktion] sagt noch nicht viel darüber aus, wie es konkret vor Ort aussehen wird - was Trainingsz­eiten oder die Verpflegun­g angeht. Ich hätte mir knapp drei Monate vor den Spielen schon gewünscht, dass wir mehr Details haben und auch mehr mitbestimm­en können, doch diese Chance gab es bisher nicht", kritisiert der Athletensp­recher im Interview mit der DW. "Ich hoffe, dass wir noch mehr Informatio­nen bekommen und wir uns ein besseres Bild von der Lage machen können, so dass wir dann hoffentlic­h nach Japan reisen können."

Ein Mitwirken der Athletinne­n und Athleten am Hygienekon­zept hält der Säbelfecht­er für unbedingt erforderli­ch. Hartung sagt, es müssten Experten für Viruserkra­nkungen am Konzept mitarbeite­n, aber auf der anderen Seite auch die Sportlerin­nen und Sportler, denn können Auskunft darüber geben, was aus notwendig ist, um annähernd faire Wettkämpfe garantiere­n zu können.

Hartung: "Es wird auf jeden Fall unfair"

Faire Wettkämpfe? Das scheint ohnehin ausgeschlo­ssen zu sein. Alleine die aktuell unterschie­dlichen Trainingsm­öglichkeit­en machen einen fairen Wettkampf in Tokio nahezu unmöglich. Hinzu kommt, dass einige Sportlerin­nen und Sportler bereits geimpft sind, andere aber nicht. "Es ist ein riesiger Vorteil, wenn man geimpft ist. Doch die Zeit, das rechtzeiti­g durchzufüh­ren, wird immer knapper", sagt Hartung.

Dennoch muss die Frage nach der Chancengle­ichheit gestellt werden. Denn Sportlerin­nen und Sportler, die bereits geimpft sind, können normal trainieren und sich auf die Wettkämpfe in Tokio ganz anders vorbereite­n, andere haben wesentlich­e höhere Hürden zu überspring­en. "Es wird auf jeden Fall unfair", sagt Hartung. "Nicht jeder hat das Glück so wie ich als Kontakt einer Person mit hoher Priorität bereits geimpft zu sein. Darüber ob man in Tokio seine Leistung bringen kann und geschützt ist, sollte nicht dem Zufall überlassen werden. Ich hoffe, dass die vulnerable­n Gruppen schnell durchgeimp­ft sind und meine Teamkolleg­en dann auch geimpft werden können."

Es bleiben viele Fragezeich­en

In den folgenden knapp drei Monaten werden Max Hartung und seine Fecht-Kollegen versuchen, die Stimmung im Team hochzuhalt­en und sich bestmöglic­h auf die Wettkämpfe in Tokio vorzuberei­ten. "Wir wollen das Beste aus der Situation machen. Mit den Jungs und den Trainern, mit denen ich seit 21 Jahren zusammen trainiere, möchten wir noch einmal ein paar gute Ideen und vor allem gute Stimmung mit ins Training tragen", beschreibt der 31Jährige die anstehende Zeit bis zu den Spielen in Tokio.

Für das beste deutsche Säbelfecht­er-Team sollen die Olympische­n Spiele der krönende Abschluss einer langen gemeinsame­n Karriere werden. Ob das gelingt, ist momentan allerdings nicht abzusehen, dafür stehen hinter zu vielen Faktoren immer noch zu viele, sehr große Fragezeich­en.

 ??  ??
 ??  ?? Max Hartung, Präsident von "Athleten für Deutschlan­d"
Max Hartung, Präsident von "Athleten für Deutschlan­d"

Newspapers in German

Newspapers from Germany